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Außerhalb des Wagens war es kalt, er schlug seinen Mantelkragen hoch. Er fühlte den Blick des Mädchens auf seinem Rücken ruhen, während er, ohne sich noch einmal umzudrehen, die Straße überquerte und sich mit den Neun Pforten unterm Arm entfernte. Sie hatte ihm nicht angeboten, ihn zu begleiten, und eine innere Stimme sagte ihm, daß es so besser war.

Der Palacio reichte beinahe von einer Querstraße zur nächsten und beherrschte mit seiner wuchtigen grauen Steinfassade einen schmalen Platz, der von mittelalterlichen Häusern eingerahmt wurde. Mit ihren verschlossenen Türen und Fenstern erinnerten die Gebäude an reglose, taubstumme Komparsen. Vom Dach des Palacios ragten vier Wasserspeier herab: ein Ziegenbock, ein Krokodil, ein Gorgonenhaupt und eine Schlange. Das schmiedeeiserne Tor, über dem sich ein Mude-jarbogen mit Davidstern wölbte, führte von der Straße in den Innenhof mit den zwei venezianischen Marmorlöwen und dem runden Brunnen, der mit Eisenplatten abgedeckt war. Dem Bücherjäger war dieser Ort bestens vertraut, aber er hatte beim Betreten noch nie ein so mulmiges Gefühl gehabt wie jetzt. Er mußte an ein altes Zitat denken: Vielleicht durchqueren Männer, von vielen Frauen liebkost, das Tal der Schatten mit weniger Reue oder mit weniger Angst. So oder ähnlich mußte es lauten, aber er war vielleicht nicht genug liebkost worden: Sein Mund war wie ausgedörrt, und er hätte seine Seele für eine halbe Flasche Bols gegeben. Und was die Neun Pforten betraf, sie waren so schwer, als enthielten sie nicht neun Holzschnitte, sondern neun Bleiplatten.

Die Stille war absolut und wurde, auch als er das Tor aufstieß, durch nichts unterbrochen. Die Sohlen seiner Schuhe riefen nicht das geringste Echo hervor, während er über die ausgetretenen Steinfliesen des Innenhofes schritt, die im Lauf der Jahrhunderte verwittert waren. Von hier führte, von einem schmalen Tonnengewölbe überspannt, eine steile Treppe empor. An ihrem Ende befand sich eine schwere, dunkle Tür mit mächtigen Ziernägeln, verschlossen: die letzte Tür. Corso entblößte einen Augenblick sein sarkastisches Wolfsgrinsen: unfreiwilliger Autor und zugleich Opfer des eigenen Scherzes oder Fehlverhaltens. Ein Versagen, das sorgfältig und rücksichtslos vorausgeplant war, mit all diesen versteckten, hinterhältigen Aufforderungen zum Weitermachen. Prognosen, die sich später als falsch herausstellten, um letztendlich vom Text selbst bestätigt zu werden. Wie die Konstruktion eines komplizierten Romans, was es aber nicht war. Oder doch?

Real schien im Augenblick jedenfalls nur sein Abbild auf dem brünierten Metallschild zu sein, das auf die Tür geschraubt war: ein Zerrspiegel, der einen Namen, einen Nachnamen und eine Silhouette enthielt, Corsos eigene Silhouette. Reglos hob sie sich vom Licht ab, das er hinter sich ließ - im Bogengang der Treppe, die in den Innenhof hinunterführte und von dort auf die Straße hinaus. Das war die letzte Station seiner seltsamen Reise zur Kehrseite der Schatten.

Er läutete. Einmal, zweimal, dreimal, ohne eine Reaktion von innen. Die Messingklingel war wie tot und leitete keinerlei hörbares Signal in das Haus weiter. Seine linke Hand berührte das zerknitterte Päckchen mit der letzten Zigarette in der Manteltasche, aber Corso widerstand auch jetzt der Versuchung. Er drückte ein viertes Mal auf den Klingelknopf. Und ein fünftes Mal. Schließlich schlug er mit der Faust an die Tür, kräftig, zweimal hintereinander. Da öffnete sie sich auf einmal - nicht mit einem unheimlichen Quietschen, sondern völlig lautlos, als wären die Angeln frisch geölt. Und auf der Schwelle erschien - auf die selbstverständlichste Art der Welt - Varo Borja.

»Tag, Corso.«

Borja schien nicht überrascht, ihn wiederzusehen. Sein kahler Schädel und die Stirn waren schweißbedeckt, das Gesicht war unrasiert, die Weste offen, und die Ärmel seines Hemds hatte er bis über die Ellbogen aufgekrempelt. Er wirkte erschöpft. Über seinen Wangenknochen zeichneten sich tiefe Ringe ab, als habe er die ganze Nacht nicht geschlafen, aber seine Augen glänzten ungewöhnlich - fiebrig, eindringlich. Er fragte seinen Besucher nicht, was er um diese Uhrzeit von ihm wolle, und bekundete kein Interesse für das Buch, das Corso unterm Arm hatte. Mehrere Sekunden rührte er sich überhaupt nicht vom Fleck und starrte ihn an, wie jemand, der bei einer diffizilen Arbeit unterbrochen oder aus Tagträumereien gerissen worden war und so schnell wie möglich wieder allein gelassen werden möchte.

Das war der Mann. Corso nickte innerlich, während ihm seine eigene Dummheit bewußt wurde. Varo Borja, natürlich: Millionär, weltberühmter Buchantiquar, angesehener Bibliophiler und methodischer Mörder. Mit beinahe wissenschaftlichem Interesse begann der Bücherjäger dieses Gesicht zu studieren, das er schon so oft gesehen hatte. Jetzt versuchte er, einzelne Züge zu isolieren, Merkmale zu entdecken, die ihn schon früher hätten warnen müssen - Spuren, die ihm entgangen waren, Winkel des Wahnsinns, des Grauens oder der Schatten in dieser vulgären Physiognomie, die er einmal zu kennen geglaubt hatte. Aber er konnte nichts finden, nur diesen fiebrigen, verklärten Blick, der weder Neugier noch Leidenschaft verriet, entrückt war in eine Bilderwelt, in welcher der Störenfried vor seiner Haustür nichts verloren hatte. Und doch trug Corso sein Exemplar des verfluchten Buches unterm Arm. Und er, Varo Borja, war ihm nachgeschlichen wie eine gefährliche Schlange und hatte im Schatten eben dieses Buches Victor Fargas und die Baronin Ungern getötet. Nicht nur um die siebenundzwanzig Holzschnitte und damit die neun richtigen Bildtafeln zusammenzubekommen, sondern auch um alle Spuren zu verwischen, auf daß es fortan nie wieder jemandem gelingen würde, das von Aristide Torchia aufgegebene Rätsel zu lösen. Varo Borja hatte den Bücherjäger in dieser ganzen Intrige nur benützt, um eine Hypothese zu bekräftigen, die sich als richtig herausstellen sollte: die Hypothese vom Buch, das eigentlich aus dreien bestand. Nebenbei war er zudem ein praktischer »Blitzableiter« für die Polizei. Corso mußte sich nachträglich zu seinem eigenen Instinkt gratulieren, denn jetzt fiel ihm auch wieder das seltsame Gefühl ein, das ihn beim Anblick des Deckengemäldes in der Quinta da Soledade beschlichen hatte - die Opferung Isaaks. Klar: der Sündenbock war er! Und der Buchhändler, der Victor Fargas zweimal im Jahr besuchte, um ihm einen Teil seiner Schätze abzukaufen, war natürlich Varo Borja. Während er sich noch in der Villa des Bibliophilen aufhielt, hatte Borja bereits in Sintra auf der Lauer gelegen und die letzten Details seines Planes ausgeheckt - in Erwartung, daß der Bücherjäger ihm seine These bestätigen würde, nämlich, daß alle drei Exemplare der Neun Pforten notwendig waren, um das Rätsel des Buchdruckers Torchia zu knacken. Für Borja war die Quittung gedacht gewesen, in der nur der Name des Käufers fehlte. Und deshalb hatte Corso ihn zu Hause, in Toledo, nicht telefonisch erreichen können. Freilich hatte Borja ihn dann noch in derselben Nacht - vor dem letzten Besuch bei Fargas - im Hotel angerufen und ein Auslandsgespräch vorgetäuscht. Und der Bücherjäger hatte ihm nicht nur seine Vermutungen bestätigt, sondern gleich auch noch den Schlüssel des Geheimnisses mitgeliefert und damit das Todesurteil über Victor Fargas und die Baronin Ungern verhängt.

Alle Teile des unheilvollen Puzzles paßten zusammen. Wenn Corso von zufälligen Übereinstimmungen mit der Intrige des Club Dumas absah - die falschen Bezüge, die er selbst hergestellt hatte -, so war Varo Borja der Schlüssel zu all den unerklärlichen Ereignissen dieses zweiten Erzählstrangs. Der diabolische Drahtzieher. Corso war nahe dran, in schallendes Gelächter auszubrechen, nur die tödlichen Folgen dieses verdammten Komplotts hielten ihn davon ab.

»Ich bringe Ihnen Ihr Buch zurück«, sagte er und hielt dem Antiquar die Neun Pforten hin.