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Varo Borja nickte zerstreut, während er den Band entgegennahm, ohne auch nur einen Blick darauf zu werfen. Er drehte nur ein wenig den Kopf zur Seite, als lausche er auf irgendein Geräusch hinter seinem Rücken, im Inneren des Hauses. Nach einer Weile wandte er sich wieder zu Corso um und blinzelte, verwundert, daß er noch da war.

»Sie haben mir das Buch gegeben. Was wollen Sie noch?«

»Den Lohn für meine Arbeit.«

Der Antiquar starrte ihn verständnislos an. Offensichtlich war er mit seinen Gedanken weit weg. Schließlich zuckte er gleichgültig mit den Achseln, drehte sich um, schlurfte ins Haus zurück und überließ es Corso, die Tür zu schließen, im Eingang stehenzubleiben oder unverrichteter Dinge wieder abzuziehen.

Corso folgte ihm durch das Vestibül und einen langen Korridor in das Zimmer mit der Sicherheitstür. Die Fensterläden waren geschlossen, und die Möbel hatte man zur Seite geschoben, um den schwarzen Marmorboden frei zu machen. Die Glastüren einiger Bücherschränke standen offen. Dutzende von Kerzen, die beinahe abgebrannt waren, erleuchteten das Zimmer. Überall tropfte Wachs - auf das Sims des erloschenen Kamins, auf den Boden, auf die Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände des Zimmers. Die rötlichen Flammen flak-kerten bei jeder Bewegung und beim geringsten Luftzug. Es roch wie in einer Kirche oder Krypta.

Varo Borja, der sich nach wie vor nicht um Corso kümmerte, blieb in der Mitte des Raumes stehen. Dort war, genau zu seinen Füßen, ein Kreidekreis von etwa einem Meter Durchmesser auf den Boden gezeichnet. Der Kreis enthielt ein Quadrat, das seinerseits in neun Kästchen unterteilt war. Römische Ziffern und seltsame Gegenstände umgaben ihn: ein Stück Schnur, eine Wasseruhr, ein rostiges Messer, ein Silberarmband in Form eines Drachens, ein goldener Ring, glühende Kohle in einem kleinen Metallgefäß, eine Glasampulle, ein Häufchen Erde, ein Stein. Aber es war noch mehr über den Fußboden verstreut, und Corso verzog mißbilligend das Gesicht: Viele der Bücher, die er erst kürzlich, sauber aneinandergereiht, in ihren Vitrinen bewundert hatte, lagen jetzt schmutzig und zerstört auf den Marmorfliesen herum, herausgerissene, lose Blätter, unterstrichen und mit rätselhaften Zeichen besudelt. Auf mehreren der wertvollen Exemplare brannten Kerzen, deren Wachs in dicken Tropfen auf die Einbände oder aufgeschlagenen Seiten floß - manche Kerzen waren bereits so weit heruntergebrannt, daß sie sogar schon das Papier angesengt hatten. Inmitten dieses Durcheinanders entdeckte der Bücherjäger die Holzschnitte aus den Neun Pforten, die Victor Fargas und der Baronin Ungern gehört hatten. Sie waren ebenfalls wachsbefleckt und mit mysteriösen Anmerkungen versehen.

Corso traute seinen Augen kaum. Er ging in die Hocke, um die Überreste der Verheerung aus der Nähe zu betrachten. Eine der Bildtafeln aus den Neun Pforten - die Nummer VI mit dem Gehängten, der am rechten Fuß baumelte - war von der Flamme eines Kerzenstummels bereits zur Hälfte verzehrt worden. Zwei Exemplare der Tafel VII - eine mit schwarzem, die andere mit weißem Schachbrett - lagen neben dem aus seinem Einband gerissenen Buchblock eines Theatrum diabolicum von 1512. Ein anderer Holzschnitt, die Nummer I, spickte zwischen den Seiten eines De magna imperfectaque opéra von Valerie Lorena hervor - ein Wiegendruck von höchster Rarität, den Corso vor wenigen Tagen noch gerade nur mit den Fingerspitzen hatte berühren dürfen. Jetzt lag er zerrissen und zerfetzt auf dem Boden.

»Fassen Sie nichts an«, hörte er Varo Borja sagen. Er stand noch immer vor dem Kreidekreis und blätterte geistesabwesend in seinem Exemplar der Neun Pforten herum. Dabei machte er jedoch den Eindruck, durch die Seiten hindurch auf das gemalte Quadrat und den Kreis zu blicken, oder gar noch durch diese hindurch in die Abgründe der Erde.

Corso betrachtete ihn einen Augenblick reglos, wie man jemanden betrachtet, den man zum erstenmal sieht. Dann erhob er sich langsam, wobei die Kerzen um ihn herum ins Flackern gerieten.

»Ist doch egal, was ich anfasse«, sagte er und deutete auf die Bücher und Blätter, mit denen der Boden übersät war. »Nach dem, was Sie da angerichtet haben.«

»Was wissen Sie schon, Corso? Nichts. Sie glauben zu verstehen, aber Sie haben keinen blassen Schimmer. Sie sind ein Ignorant. Einer von diesen Dummköpfen, die das Chaos dem Zufall zuschreiben und keine Ahnung vom Walten einer geheimen Ordnung haben.«

»Hören Sie mir auf mit diesem Quatsch. Sie haben eine Bibliothek zerstört, und dazu hatten Sie nicht das Recht. Dazu hat keiner das Recht.«

»Sie irren sich. Erstens gehören diese Bücher mir, aber was noch viel wichtiger ist, sie sind zum Gebrauch bestimmt. Viel mehr als einen künstlerischen oder ästhetischen Wert haben sie einen praktischen Wert . Wer einen bestimmten Weg auswählt und beschreitet, muß dafür sorgen, daß ihm kein anderer folgt. Diese Bücher haben ihren Zweck bereits erfüllt.«

»Verdammter Spinner! Sie haben mich von Anfang an betrogen!«

Varo Borja schien ihm gar nicht zuzuhören. Er hatte die Neun Pforten aufgeschlagen in der Hand und starrte auf die Bildtafel I.

»Betrogen?« fragte er in verächtlichem Ton und machte sich nicht einmal die Mühe, Corso dabei anzusehen. »So viel Ehre kommt Ihnen gar nicht zu. Ich habe Ihre Dienste gemietet, ohne Ihnen Gründe zu nennen oder Sie in meine Pläne einzuweihen. Ein Knecht hat nicht Anteil an den Entscheidungen dessen, der ihn bezahlt . Ihre Aufgabe war es, das Wild aufzustöbern, das ich erlegen wollte, und nebenbei für die technischen Folgen gewisser Taten einzustehen, die unvermeidlich waren. Ich vermute, daß Ihnen die portugiesische und die französische Polizei bereits auf der Spur sind.«

»Und Sie?«

»Mich berührt das alles nicht, ich bin in Sicherheit. In einer kleinen Weile wird nichts mehr Bedeutung für mich haben.«

Mit diesen Worten riß er vor den entsetzten Augen Corsos die Seite mit dem Holzschnitt aus den Neun Pforten aus.

»Was tun Sie da?«

Varo Borja ließ sich nicht beirren und fuhr in seinem Zerstörungswerk fort.

»Ich verbrenne meine Schiffe, breche Brücken hinter mir ab und betrete die terra incognita, das unerforschte Land . « Er hatte eine nach der anderen alle neun Bildtafeln aus dem Buch gerissen und betrachtete sie jetzt aufmerksam. »Schade, daß Sie mir dorthin, wo ich nun hingehe, nicht folgen können ... Aber wie lautet die Legende des vierten Bildes: Das Schicksal ist für jeden ein anderes.«

»Wohin wollen Sie?«

Der Antiquar warf sein verstümmeltes Buch zu den anderen auf den Boden. Dann starrte er abwechselnd auf die neun Bildtafeln und den Kreidekreis, als ließen sich geheimnisvolle Bezüge zwischen ihnen herstellen.

»Ich gehe, jemanden zu treffen«, war seine kryptische Antwort. »Ich gehe den Stein suchen, den der Große Architekt verstoßen hat - den wahren Grundstein der Philosophie. Und der Macht. Der Teufel liebt das Verwandlungsspiel, Corso: Als schwarzer Hund begleitet er den Faust, und als falscher Engel des Lichts versucht er den Widerstand des heiligen Antonius zu brechen. Vor allem jedoch langweilt ihn die Dummheit, und er haßt die Monotonie . Wenn ich Zeit und Lust hätte, würde ich Ihnen ein paar von den Büchern zeigen, die da vor Ihnen liegen. In mehreren ist nachzulesen, daß einer alten Überlieferung zufolge der Antichrist auf der Iberischen Halbinsel in Erscheinung treten wird, in einer Stadt, in der sich drei Kulturen überlagern. Die Stadt liegt am Ufer eines Flusses, der wie mit einer Axt in den Boden geschlagen wurde: der Tajo.«

»Das also haben Sie im Sinn?«

»Ja, und ich bin beinahe am Ziel angelangt. Bruder Torchia hat mir den Weg gewiesen: Tenebris Lux.«

Er hatte sich über den Kreis auf dem Boden gebeugt und einige der Bildtafeln um sich herum angeordnet, während er andere zerknüllt oder zerrissen und weggeworfen hatte. Die Kerzen beleuchteten sein Gesicht von unten und verliehen ihm ein gespenstisches Aussehen.