»Da gibt es etwas . «, murmelte er, als helfe es ihm, seine Gedanken laut auszusprechen. »Ein kleines Detail, das in den alten Schriften nicht erwähnt wird - jedenfalls nicht ausdrücklich . Wenn ich die Zahlen des Quadrats von oben nach unten oder von unten nach oben, von rechts nach links oder von links nach rechts, oder auch diagonal addiere, so kommt als Summe immer 15 heraus. Wenn ich aber den kabbalistischen Chiffrenschlüssel anwende, dann habe ich es mit einer l und einer 5 zu tun, die zusammengezählt 6 ergeben . Und diese 6 umgibt auf allen vier Seiten das magische Quadrat in der Schlange, die wir auch den Drachen oder das Tier nennen können.«
Corso brauchte nicht einmal selbst zu überprüfen, ob diese Rechnung stimmte. Er hatte den Beweis vor sich auf dem Boden liegen und zwar in Form eines weiteren mit Zahlen und Zeichen übersäten Blatts.
Varo Borja war vor dem Kreis in die Hocke gegangen. Die Schweißtropfen auf seinem Gesicht reflektierten das Licht der Kerzen. Er hatte ein Blatt Papier in der Hand und starrte auf die seltsamen Worte, die darauf angeordnet waren:
»Öffne das Siegel neunmal, heißt es bei Torchia ... Das bedeutet, daß ich die Schlüsselwörter auf die Kästchen mit ihrer jeweiligen Zahl verteilen muß, und dabei ergibt sich eine Sequenz.«
»Und wenn ich sie nun in die Schlange oder den Drachen eintrage«, er löschte die Nummern aus den Kästchen des Quadrats und ersetzte sie durch die entsprechenden Worte, »dann kommt zur Schande Gottes folgendes dabei heraus.«
»Es ist vollbracht«, flüsterte Borja, während er die letzten Buchstaben schrieb. Seine Hand zitterte, und einer der Schweißtropfen auf seiner Stirn rollte zur Nasenspitze hinab und fiel auf die Kreidezeichnung. »Torchias Anleitung zufolge müßte jetzt im Spiegel der Weg zu erkennen sein, der mich zu dem verlorenen Wort führt . zu dem Wort, welches das Licht aus der Finsternis bringt. Diese Sätze sind auf Latein - für sich genommen bedeuten sie gar nichts, aber in ihrem Inneren verbirgt sich die reine Essenz des Verbum dimissum, die Formel, mit der sich der Satan rufen läßt: unser Vorgänger, unser Spiegel und unser Helfer.«
Der Antiquar kniete jetzt mitten in dem Kreis, umgeben von den Zeichen, Wörtern und Gegenständen, die er auf dem Quadrat angeordnet hatte. Seine Hände, an denen Wachs vermischt mit Kreide und Tinte klebte, zitterten so stark, daß er die Finger ineinander verschlingen mußte. Er lachte wie ein Wahnsinniger, mit zusammengepreßten Zähnen, hochmütig und völlig von sich selbst eingenommen. Aber Corso wußte, daß er nicht wahnsinnig war. Er sah sich um, wohl wissend, daß ihm nicht mehr viel Zeit blieb, und trat auf Varo Borja zu, konnte sich aber nicht dazu entschließen, den Fuß in den Kreidekreis zu setzen, in dem der Antiquar kniete.
Borja warf ihm einen hämischen Blick zu, denn er ahnte seine Befürchtungen.
»Los, Corso. Wir lesen zusammen. Haben Sie Angst ... oder haben Sie Ihr Latein vergessen?«
Licht und Schatten wechselten immer schneller auf seinem Gesicht ab, als habe das Zimmer begonnen, sich um ihn zu drehen.
»Brennen Sie nicht darauf, zu erfahren, was sich in diesen Worten verbirgt? Auf der Rückseite der Bildtafel, die dort zwischen den Seiten des Valerio Lorena steckt, finden Sie die Übersetzung. Halten Sie sie an den Spiegel, wie die Meister der Kunst es vorschreiben! Dann wissen Sie wenigstens, wofür Fargas und die Baronin Ungern sterben mußten.«
Corso betrachtete das Buch von Lorena - ein alter, stark abgegriffener Wiegendruck mit Pergamenteinband. Dann bückte er sich vorsichtig, beinahe ängstlich, als fürchte er, es mit einer tödlichen Falle zu tun zu haben, und zog schließlich mit den Fingerspitzen die Bildtafel heraus. Es handelte sich um die Tafel Nummer I aus dem Exemplar der Baronin Ungern: drei Türme anstelle von vier. Die Rückseite war beschrieben:
»Nur Mut, Corso!« Die Stimme des Antiquars klang heiser und gefährlich. »Sie haben nichts zu verlieren ... Halten Sie das Blatt an den Spiegel.«
Ganz in der Nähe lag zwischen geschmolzenen Kerzenstummeln, die nahezu erloschen waren, tatsächlich ein Spiegel auf dem Boden - ein altes, barockes Stück aus Silber mit kunstvoll gearbeitetem Griff. Die Spiegelfläche war stellenweise schon blind, aber Corso konnte sich trotzdem noch darin erkennen, wenn auch in einer seltsamen Perspektive: weit weg, wie am Ende eines langen Korridors, der in rötliches Flackerlicht getaucht war. Nicht ein, sondern zwei Bilder sah er, den Helden und seine unendliche Müdigkeit, Bonaparte, todkrank an seinen Felsen auf Sankt Helena geschmiedet. Nichts zu verlieren, hatte Varo Borja gesagt. Eine desolate, kalte Welt, in der die Grenadiere von Waterloo - einsame Gerippe - Wache standen an den dunklen Wegen des Vergessens. Corso sah sich selbst vor der letzten Tür: Er hatte den Schlüssel in der Hand, genau wie der Eremit auf der zweiten Bildtafel, und der Buchstabe Teth kroch ihm wie eine Schlange über die Schulter.
Das Glas knirschte unter seiner Sohle, als er den Fuß darauf setzte, langsam, ohne Aggressivität, und dann zerbrach der Spiegel mit einem leisen Klirren. Die Scherben brachen das Bild in unzählige kleine Korridore, an deren Enden ebenso viele reglose Corsos zu erahnen waren. Aber sie waren viel zu weit weg und viel zu undeutlich, als daß ihr Schicksal ihn bekümmert hätte.
»Schwarz ist die Schule der Nacht«, hörte er Varo Borja sagen. Er kniete immer noch in seinem Kreidekreis, kehrte ihm den Rücken zu und beachtete ihn nicht mehr. Corso bückte sich nach einer Kerze und hielt ihre Flamme an eine Ecke des Holzschnitts Nummer l mit den zwölf in Spiegelschrift geschriebenen Worten auf der Rückseite. Dann ließ er die Türme der Burg, das Pferd, den Ritter, der den Betrachter zum Schweigen gemahnte, in seinen Fingern verbrennen. Schließlich gab er den letzten Fetzen frei, der sich sekundenschnell in Asche verwandelte, vom warmen Luftstrom der Kerzen emporgetragen wurde und davonflog. Darauf betrat er den Kreis und faßte Varo Borja am Arm.
»Ich will mein Geld. Sofort.«
Der Antiquar ignorierte ihn, völlig verloren in den Schatten, die zusehends Besitz von ihm ergriffen. Plötzlich bückte er sich, nervös und beunruhigt, und verrückte einige der Gegenstände auf dem Boden, als stimme etwas mit ihrer Verteilung nicht. Dann begann er, nach kurzem Zögern, rätselhafte Worte zu einem unheimlichen Gebet aneinanderzureihen:
»Abaddon, Behemoth, Foras, Baphomet...«
Corso packte ihn an der Schulter und schüttelte ihn heftig, aber Varo Borja zeigte weder Empörung noch Furcht. Er versuchte auch nicht, sich zu verteidigen, sondern fuhr fort, die Lippen wie ein Schlafwandler zu bewegen oder wie ein inbrünstig betender Märtyrer, der nicht auf das Gebrüll der Löwen oder das Schwert des Henkers achtet.
»Zum letzten Mal. Mein Geld!«
Es war sinnlos. Er sah nur zwei leere Augen vor sich, die durch ihn hindurchblickten, als existiere er nicht. Sie waren dunkel wie Brunnenschächte und starrten ausdruckslos in die Abgründe des Schattenreichs.
»Leviathan, Baal, Marchocias ...«
Der beschwört die Teufel, schoß es Corso durch den Kopf. Der Welt entrückt kniete dieser Mensch in seinem Kreidekreis und rief die Teufel bei ihrem Namen herbei - ohne sich durch Corsos Anwesenheit, ja nicht einmal durch seine Drohgebärden im geringsten stören zu lassen.
»Camael, Belial...«
Nur als ihn der erste Schlag traf, unterbrach er sich kurz; eine saftige Rückhand, bei der sein Gesicht auf die linke Schulter flog. Seine Augen irrten orientierungslos umher, bis sie sich auf einen unbestimmten Punkt im Universum hefteten.