»Samael, Astaroth ...«
Als er die zweite Ohrfeige bekam, floß ihm bereits blutiger Speichel aus einem Mundwinkel. Corso zog seine rot verschmierte Hand angewidert zurück. Er hatte das Gefühl, in eine schleimige, feuchte Masse zu schlagen. Er atmete ein paarmal tief durch und zählte zehn Herzschläge ab, bevor er die Zähne zusammenbiß, die Fäuste ballte und von neuem zuschlug. Jetzt troff noch mehr Blut aus Borjas verrenktem Mund, aber er fuhr fort, wie in Trance sein Gebet zu leiern. Um seine geschwollenen Lippen spielte ein verzücktes Lächeln. Corso packte ihn am Hemdkragen, riß ihn brutal aus dem Kreis und versetzte ihm noch einen Kinnhaken. Erst dann stieß Varo Borja einen tierischen Schrei der Angst und des Schmerzes aus und riß sich mit ungeahnter Energie von ihm los, um auf allen vieren in den Kreis zurückzukriechen. Dreimal wurde er von Corso wieder herausgezerrt, und dreimal kehrte er hartnäckig in den Kreidekreis zurück. Beim dritten Mal hinterließ er eine Blutspur auf dem Siegel Saturns mit seinen Zeichen und Buchstaben.
»Sic dedo me ... «
Irgend etwas funktionierte nicht. Corso sah im Flackerlicht der Kerzen, wie der Antiquar ratlos innehielt und mit verstörtem Blick die Anordnung der Gegenstände in und um den magischen Kreis überprüfte. Aber seine Frist schien nahezu abgelaufen, denn aus der Wasseruhr flossen die letzten Tropfen Wasser aus. Borja wiederholte noch einmal seine letzten Worte mit mehr Nachdruck und berührte dabei drei der neun Kästchen des Quadrats.
»Sic dedo me ...«
Corso hatte einen beißenden Geschmack im Mund. Während er seine blutverschmierten Hände am Mantelsaum abwischte, ließ er den Blick hoffnungslos durchs Zimmer schweifen. Noch mehr abgebrannte Kerzen erloschen knisternd, und der Rauch der verkohlten Dochte schlängelte sich spiralförmig in dem rötlichen Dämmerlicht empor. Wie die Schlange, die sich in den Schwanz beißt, dachte er mit bitterer Ironie. Dann trat er an den Schreibtisch, der zusammen mit den anderen Möbeln an die Wände geschoben worden war, warf die Dinge, die darauf herumlagen, auf den Boden und durchwühlte die Schubladen. Aber er fand kein Geld. Nicht einmal ein Scheckheft. Nichts.
»Sic exeo me ...«
Der Antiquar setzte seine Litanei fort. Corso warf einen letzten Blick auf ihn: Varo Borja kniete im Zentrum des magischen Kreises, das entstellte Gesicht andächtig über den Boden geneigt, und öffnete mit verklärtem Lächeln die letzte der neun Pforten. Seine blutigen Lippen bildeten einen diabolischen, dunklen Strich wie von einem Messerschnitt.
»Schweinehund«, sagte Corso. Und damit war der Vertrag für ihn aufgelöst.
Er stieg die überwölbte Treppe hinunter, dem grauen Tageslicht entgegen, das sich am Ende der Stufen abzeichnete. Im Innenhof angelangt, blieb er neben dem Brunnen mit den venezianischen Löwen vor dem Tor zur Straße stehen und sog genüßlich die saubere, frische Morgenluft ein. Dann fischte er das zerknitterte Päckchen aus seiner Manteltasche und klemmte sich die letzte Zigarette zwischen die Lippen, ohne sie jedoch anzuzünden. So blieb er eine Weile still stehen, während sich der erste Strahl der aufgehenden Sonne, die er beim Eintritt in die Stadt hinter sich gelassen hatte, durch die grauen Steinfassaden des Platzes hindurch einen Weg zu ihm bahnte und das schmiedeeiserne Torgitter auf seinem Gesicht tanzen ließ. Der horizontal einfallende Strahl war so grell, daß Corso die übermüdeten, angestrengten Augen zusammenkneifen mußte. Als die Sonne dann höher stieg, drangen mehr Strahlen in den Innenhof und breiteten sich langsam um die venezianischen Löwen herum aus, die ihre Mähnen aus Marmor neigten, als würden sie von der Sonne gestreichelt. Das anfänglich nur zart schimmernde Licht verwandelte sich in eine Wolke aus Goldstaub, die Corso einhüllte. Da hörte er vom Ende der Treppe her, jenseits der letzten Tür ins Reich der Schatten, dort, wo das Licht dieser friedlichen Morgendämmerung niemals hindringen würde, einen Schrei - einen herzzerreißenden, unmenschlichen Schrei, einen Schrei des Entsetzens und der Verzweiflung, in dem kaum noch die Stimme Varo Borjas wiederzuerkennen war.
Ohne sich umzudrehen, stieß Corso das Tor auf und trat auf die Straße hinaus. Er hatte das Gefühl, sich wie mit Siebenmeilenstiefeln zu entfernen - gerade so, als gehe er in wenigen Sekunden eine Strecke zurück, für die er auf dem Herweg ewige Zeit gebraucht hatte.
In der Mitte des sonnenüberfluteten Platzes blieb er geblendet stehen. Das Mädchen saß immer noch im Auto, und der Bücherjäger wurde von einem tiefen, egoistischen Jubelschauer erfaßt, als er feststellte, daß sie sich nicht mit den letzten Schatten der Nacht verflüchtigt hatte. Sie lächelte ihm voller Zärtlichkeit zu, unglaublich jung und schön, mit ihrer Jungenfrisur, der braungebrannten Haut, den ruhigen Augen, die erwartungsvoll auf ihn gerichtet waren. Und der phantastische Goldglanz, den die schillernden grünen Augen verstrahlten, dieses Licht, vor dem die dunklen Winkel der alten Stadt, die Silhouetten der Kirchtürme und die gotischen Torbogen des Platzes zurückwichen, spiegelte sich in ihrem Lächeln, als Corso auf sie zuging. Nach ein paar Schritten senkte er resigniert den Kopf, bereit, sich von seinem eigenen Schatten zu verabschieden. Aber er hatte keinen Schatten zwischen den Füßen.
In dem von vier Wasserspeiern bewachten Haus hatte Varo Borja aufgehört zu schreien. Oder vielleicht schrie er noch, aber an irgendeinem düsteren Ort, der zu weit entfernt war, als daß seine Schreie noch bis auf die Straße gedrungen wären. Nunc scio: Jetzt weiß ich. Corso fragte sich, ob die Brüder Ceniza wohl Kunstharz oder Holz verwendet hatten, um die fehlende Bildtafel - Laune eines Kindes oder Barbarei eines
Sammlers - für Borjas Exemplar nachzudrucken. Wenn er an ihre geschickten, blassen Hände dachte, neigte er allerdings zur zweiten Möglichkeit: in Holz geschnitten und ohne jeden Zweifel von der Bibliografia von Mateu abgenommen. Deshalb gingen Varo Borjas Rechnungen nicht auf: In allen drei Exemplaren war die letzte Abbildung falsch. Ceniza sculpsit. Aus Liebe zur Kunst.
Er grinste mit zusammengebissenen Zähnen, wie ein grausamer Wolf, als er den Kopf senkte, um seine letzte Zigarette anzuzünden. Diese Art von Streichen spielen einem die Bücher nun einmal, sagte er sich. Und jeder hat den Teufel, den er verdient.
Glossar
apokryph: unecht, später hinzugefügt
bibliophiclass="underline" eigentlich bücherliebend; bibliophile Ausgabe: besonders schön gestaltete und wertvolle Ausgabe eines Werkes
Bibliophile: Liebhaber und Sammler schöner und seltener Bücher
Bogen: großer Papierbogen, der bedruckt, gefalzt und schließlich zu den einzelnen Seiten zerschnitten wird; üblicherweise ergibt ein Druckbogen 16 Seiten
Buchblock: die gesamten, zusammengetragenen Seiten eines Buches, noch ohne Fadenheftung oder Klebebindung und ohne Buchdeckel
Bund: die Heftschnüre am Buchrücken, die bei alten Büchern erhaben hervortreten
Büttenpapier: ursprünglich nur von Hand aus einer Bütte geschöpftes Papier, das aus Hadern hergestellt wurde
Duodez, Duodezformat: Buchformat zwischen Oktav und Sedez, für das der Druckbogen sechsmal gefaltet wird (Abk.: 12°); ein Bogen ergibt 12 Blatt, also 24 Seiten; siehe auch Folio-, Oktav-, Quart- und Sedezformat
Druckbogen: siehe Bogen
Elzevier: niederländische Buchhändler- und Buchdruckerfamilie im 16./17. Jahrhundert