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»Nur wenigen Menschen wird eine solche Chance zuteil, Vernon. Du darfst sie nicht ungenutzt verstreichen lassen.«

»Ja, wirklich?«

Der Lehrer stand auf, und als er sprach, waren Kraft und Widerhall in seiner Stimme. »Wir müssen dieses Erbe suchen. Und zwar sofort.«

8

Als Tom mit der Behandlung des kranken Pferdes fertig war, ging hinter der Toh-Ateen-Mesa die Sonne unter und warf lange goldene Schatten über Salbei und Chamisa. Dahinter erhob sich eine über dreihundert Meter hohe, im sterbenden Licht rot leuchtende Wand aus behauenem Sandstein. Tom sah sich das Pferd noch einmal kurz an, dann tätschelte er ihm den Hals und wandte sich der Besitzerin zu, einer jungen Navajo. »Er wird's schon schaffen. Ist nur ein Anflug von Sandkolik.«

Die junge Frau ließ ein erleichtertes Lächeln sehen.

»Jetzt hat er erst mal Hunger. Führen Sie ihn ein paar Mal durch die Koppel, dann geben Sie ihm zusammen mit dem Hafer eine Schöpfkelle Psyllium. Lassen Sie ihn danach saufen. Dann geht's ihm bestimmt bald besser.«

Die Navajo-Großmutter, die fünf Meilen geritten war, um in seine Tierarztpraxis zu kommen - die Straße war, wie üblich, unterspült -, nahm seine Hand. »Danke, Doktor.«

Tom deutete eine Verbeugung an. »Stets zu Diensten.« Er freute sich schon auf den Rückritt nach Bluff. Er war froh, dass die Straße unterspült war, denn so hatte er eine Ent-schuldigung für den langen Ritt. Er hatte ihm zwar den halben Tag kaputtgemacht, aber der Weg führte immerhin durch eine der schönsten Felslandschaften des Südwestens: durch die als Morrison-Formation bekannten jurassischen Sandsteinablagerungen, die von Dinosaurierfossilien nur so strotzten. Dort gab es zahllose abgelegene Canyons, die bis zur Toh-Ateen-Mesa hinaufführten. Ob da oben je Paläon-tologen gewesen waren, um sie zu erforschen? Wahrscheinlich nicht. Irgendwann, dachte Tom, mach ich einen kleinen Abstecher in eine dieser Schluchten ...

Er schüttelte den Kopf und lächelte vor sich hin. Die Wüste war ein schöner Ort, um den Geist zu klären. Und er musste über vieles nachdenken. Diese verrückte Sache mit seinem Vater war der größte Schock seines Lebens gewesen.

»Was sind wir Ihnen schuldig, Doktor?«, unterbrach die Großmutter seine Träumerei.

Tom warf einen Blick auf die schäbige Teerpappenbehau-sung, das kaputte, halb im Unkraut vergrabene Auto und die mageren Schafe im Pferch.

»Fünf Dollar.«

Die Frau griff in ihre Baumwollkordbluse, entnahm ihr ein paar angeschmutzte Dollarscheine und zählte fünf ab.

Tom hatte gerade an seinen Hut getippt und sich umgedreht, um sein Pferd zu holen, als ihm am Horizont eine kleine Staubwolke auffiel. Auch die beiden Navajos hatten sie bemerkt. Ein Pferd und ein Reiter kamen aus nördlicher Richtung schnell auf sie zu. Und zwar aus der Gegend, aus der auch Tom gekommen war. Der dunkle Fleck wurde in dem riesigen goldenen Wüstenbecken immer größer. Tom fragte sich, ob es sein Partner Shane war. Die Vorstellung alarmierte ihn. Es musste schon ein verflucht wichtiger Notfall sein, wenn Shane hier aufkreuzte, um ihn zu holen.

Als die Gestalt Kontur annahm, sah er, dass er es nicht war. Es war eine Frau. Und sie ritt auf seinem Pferd Knock.

Als sie in die Ansiedlung trabte, war sie durch den Ritt von Staub bedeckt. Knock schäumte und schnaubte. Die Frau hielt an und schwang sich vom Rücken des Pferdes.

Sie war fast zwölf Kilometer ohne Sattel und Zaumzeug durch die einsame Wüste geritten. Welch ein Irrsinn! Wieso ritt sie überhaupt sein bestes Pferd? Hätte sie nicht einen von Shanes Kleppern nehmen können? Er würde Shane den Hals umdrehen.

Die Frau kam auf ihn zu. »Ich bin Sally Colorado«, sagte sie. »Ich wollte Sie eigentlich in der Praxis aufsuchen, aber Ihr Partner sagte, Sie wären hier draußen. Deswegen bin ich hier.« Ihr honigblondes Haar raschelte, als sie ihm die Hand hinhielt. Tom schüttelte sie völlig verblüfft. Das Haar der Frau fiel ihr über die Schultern auf ein weißes, nun staubiges Baumwollhemd, das an ihrer schlanken Taille in eine Jeans gestopft war. Ein leichter Pfefferminzgeruch umgab sie. Als sie lächelte, schien ihre Augenfarbe von Grün zu Blau zu wechseln. Jedenfalls erweckte es den Eindruck. Sie trug Türkisohrringe, doch die Farbe ihrer Augen war satter als die der Steine.

Nach einer Weile fiel Tom auf, dass er ihre Hand noch immer festhielt. Er ließ sie los.

»Ich musste Sie einfach ausfindig machen«, sagte Sally.

»Ich konnte nicht warten.«

»Ein Notfall?«

»Jedenfalls kein tierärztlicher, wenn Sie das meinen.«

»Um was für einen geht es dann?«

»Das erzähle ich Ihnen auf dem Rückweg.«

»Verdammt noch mal«, explodierte Tom. »Ich kann's nicht fassen, dass Shane es zulässt, dass Sie mein bestes Pferd ohne Sattel und Zaumzeug fast zuschanden reiten. Sie hätten dabei draufgehen können!«

»Shane hat's nicht zugelassen.« Die junge Frau lächelte.

»Wie haben Sie das Pferd dann gekriegt?«

»Ich hab's geklaut.«

Tom brauchte eine Weile, bis er seine Bestürzung überwand und zu lachen wagte.

Als die beiden nach Norden aufbrachen, war die Sonne untergegangen. Sie ritten zusammen nach Bluff zurück.

Eine Weile bewegten sie sich schweigend nebeneinander her, dann sagte Tom: »Also los, dann erzählen Sie mal, was so wichtig ist, dass Sie ein Pferd und Ihren Hals riskieren mussten.« »Tja ...« Sally zögerte.

»Ich bin ganz Ohr, Miss ... Colorado. Falls Sie wirklich so heißen.«

»Ich weiß, es ist ein komischer Name. Mein Urgroßvater war beim Varietee. Er hat als Indianer verkleidet eine medizinische Nummer aufgeführt und den Namen Colorado als Künstlername angenommen. Er ist besser als unser alter Smith. Er ist irgendwie an uns hängen geblieben. Nennen Sie mich Sally.«

»Na schön, Sally. Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.« Tom ertappte sich dabei, dass er ihr mit einem guten Gefühl beim Reiten zuschaute. Sie machte den Eindruck, als sei sie auf einem Pferd zur Welt gekommen. Ihre lässige aufrechte Haltung musste eine Stange Geld gekostet haben.

»Ich bin Anthropologin«, begann Sally. »Genauer gesagt: Ich bin Ethnopharmazeutin. Ich studiere einheimische Medizin bei Professor Julian Clyve in Yale. Er war der Mann, der vor einigen Jahren die Hieroglyphen der Mayas geknackt hat. Eine wirklich geniale Arbeit. Es stand in allen Zeitungen.«

»Das bezweifle ich nicht.«

Sally hatte ein scharfes, sauber geschnittenes Profil, eine kleine Nase und eine komische Art, die Oberlippe vorzu-schieben. Wenn sie lächelte, hatte sie ein Grübchen, doch nur an einer Seite des Mundes. Ihr Haar war wie dunkles Gold; es schlängelte sich in einer glänzenden Kurve über ihre schlanken Schultern und fiel ihr dann über den Rük-ken. Sie war eine bemerkenswert schöne Frau.

»Professor Clyve hat die größte existierende Sammlung von Maya-Schriften zusammengetragen. Eine Bibliothek sämtlicher Schriften der alten Maya-Sprache. Sie besteht aus Abrieben von Stein-Inschriften, Handschriften und Ko-pien von Inschriften auf Töpfen und Steintafeln. Seine Bibliothek wird von Gelehrten aus aller Welt konsultiert.«

Tom konnte den tatterigen alten Pädagogen fast in seinen verstaubten Manuskripten herumkramen sehen.

»Die berühmtesten Maya-Schriften waren in den so genannten Codices enthalten. Dabei handelte es sich um Urbücher der Mayas, die in Glyphen auf Rindenpapier geschrieben wurden. Die Spanier haben die meisten verbrannt, weil sie sie für Bücher des Teufels hielten, doch einige unvollständige Codices haben hier und da überdauert.

Ein vollständiger Maya-Codex wurde allerdings nie gefunden. Im letzten Jahr stieß Professor Clyve auf dies hier. Er fand es hinten in einem Aktenschrank, der einem seiner verstorbenen Kollegen gehörte.«