Sally zog ein gefaltetes Stück Papier aus der Hemdtasche und hielt es ihm hin. Tom nahm es an sich. Es war eine ver-gilbte alte Fotokopie, die eine in Hieroglyphen verfasste Manuskriptseite zeigte. Am Rand befanden sich mehrere Zeichnungen von Blättern und Blumen. Sie kamen ihm vage bekannt vor, und so fragte er sich, wo er sie schon einmal gesehen hatte.
»Nur dreimal in der Menschheitsgeschichte wurde unabhängig voneinander die Schrift erfunden. Die Hieroglyphen der Mayas gehören dazu.«
»Mein Mayanisch ist ein wenig eingerostet. Was steht auf dem Zettel?«
»Er beschreibt die medizinischen Eigenschaften eines bestimmten Gewächses, das im mittelamerikanischen Regenwald gedeiht.«
»Was bewirkt es? Kann es Krebs heilen?«
Sally lächelte. »Das wäre was. Das Gewächs heißt K'ik'te oder auch Blutbaum. Der Zettel beschreibt, wie man seine Rinde kocht, Asche als Alkali hinzufügt und die Paste bei einer Verwundung als Wickel einsetzt.«
»Interessant.« Tom gab Sally den Zettel zurück.
»Es ist mehr als interessant. Es ist medizinisch korrekt. Die Rinde enthält nämlich ein leichtes Antibiotikum.«
Sie befanden sich nun auf dem glatten Steinplateau. Ein paar Kojoten heulten klagend in einem fernen Canyon. Ab jetzt mussten sie hintereinander reiten. Sally ritt hinter Tom her, der ihr zuhörte.
»Die Seite stammt aus einem mayanischen Medizin-Codex. Er wurde vermutlich so um das Jahr 800 geschrieben, auf dem Höhepunkt der klassischen Maya-Kultur. Der Codex enthält zweitausend medizinische Verordnungen und Verfahren - nicht nur zum Thema pflanzliche Medizin, sondern auch zu allem anderen, was im Regenwald wächst und lebt: Insekten, Säugetiere, selbst Mineralien. Vielleicht enthält er sogar ein Heilmittel gegen Krebs - oder wenigstens gegen bestimmte Krebsarten. Professor Clyve hat mich gebeten, den Besitzer ausfindig zu machen. Ich soll versuchen, ihn zu bewegen, den Codex übersetzen und veröffentlichen zu lassen. Es ist der einzige uns bekannte vollständige Maya-Codex. Es wäre wirklich ein atemberaubender Höhepunkt seiner bisher schon erstaunlichen Laufbahn.«
»Der Ihren auch, nehme ich an.«
»Ja. Es gibt ein Buch, das alle medizinischen Geheimnisse des Regenwaldes enthält und über Jahrhunderte hinweg ergänzt wurde. Wir reden hier über den üppigsten Regenwald der Welt, in dem Hunderttausende pflanzlicher und tierischer Spezies zu Hause sind; viele davon sind der Wissenschaft noch unbekannt. Die Mayas kannten jede Pflanze und jedes Tier; alles, was in diesem Regenwald existiert.
Und ihr gesamtes Wissen ist in dieses Buch geflossen.«
Sally trabte nun neben Tom her. Ihr offenes Haar wehte, als sie ihn einholte. »Ist Ihnen klar, was das bedeutet?«
»Bestimmt«, sagte Tom, »hat sich die Medizin seit den alten Mayas ganz schön weiterentwickelt.«
Sally Colorado schnaubte. »Ursprünglich kamen fünfundzwanzig Prozent unserer sämtlichen Arzneimittel aus der Pflanzenwelt. Und doch ... Wussten Sie, dass bisher nur ein halbes Prozent der 265 000 Pflanzenarten dieser Erde auf ihre medizinischen Eigenschaften hin untersucht wurden?
Stellen Sie sich die Möglichkeiten vor! Die erfolgreichste und wirkungsvollste Droge aller Zeiten - Aspirin - wurde ursprünglich in der Rinde eines Baumes entdeckt, die Eingeborene zum Lindern von Schmerzen nutzten. Taxol, ein wichtiges Antikrebsmittel, wird ebenfalls aus Baumrinde hergestellt. Cortison wurde aus Dioscorea-Knollen gewonnen, das Herzmittel Digitalis aus dem Fingerhut, und Peni-cillin aus Schimmel. Tom, dieser Codex könnte die größte medizinische Entdeckung aller Zeiten sein!«
»Ich verstehe, auf was Sie hinauswollen.«
»Wenn Professor Clyve und ich den Codex übersetzen, wird er die Medizin revolutionieren. Und wenn das Sie noch nicht überzeugt, dann habe ich noch etwas anderes auf Lager. Der mittelamerikanische Regenwald verschwindet unter den Sägen der Holzfäller. Dieses Buch wird ihn retten.
Der Regenwald wird plötzlich viel mehr wert sein, wenn er erhalten bleibt. Die Pharmakonzerne werden diesen Ländern Milliarden an Tantiemen zahlen.«
»Und zweifellos auch einen schönen kleinen Profit ein-
streichen. Aber was hat das Buch mit mir zu tun?«
Über den Hobgoblin Rocks stieg nun der Vollmond auf und bemalte die Felsen mit silberner Farbe. Es war ein herrlicher Abend.
»Der Codex gehört Ihrem Vater.«
Tom hielt sein Pferd an und warf Sally einen Blick zu.
»Maxwell Broadbent hat ihn vor fast vierzig Jahren aus einer Grabkammer der Mayas gestohlen. Er hat nach Yale geschrieben und um Hilfe bei der Übersetzung gebeten.
Aber damals war die Maya-Schrift noch nicht dechiffriert.
Der Mann, der den Brief bekam, hielt die Musterseite für eine Fälschung und legte sie in einem alten Aktenordner ab, ohne den Brief zu beantworten. Vierzig Jahre später fiel er Professor Clyve in die Hände. Er wusste sofort, dass er echt ist. Vor vierzig Jahren konnte niemand einen Maya-Text fäl-schen, und zwar aus dem einfachen Grund, weil nämlich niemand ihre Schrift lesen konnte. Professor Clyve hat den Text jedoch verstanden: Er ist wirklich der einzige Mensch auf dieser Welt, der die Schrift der Mayas fließend lesen kann. Ich versuche seit Wochen Ihren Vater zu erreichen, aber es sieht so aus, als hätte die Erde ihn verschluckt. Deswegen habe ich mich in meiner Verzweiflung an Ihre Fersen geheftet.«
Tom musterte Sally im zunehmenden Zwielicht. Dann lachte er.
»Was ist daran so komisch?«, fragte Sally aufgebracht.
Tom holte tief Luft. »Ich hab schlechte Nachrichten für Sie, Sally.«
Nachdem er ihr alles erzählt hatte, machte sich Schweigen breit.
»Sie nehmen mich auf den Arm«, sagte Sally schließlich.
»Nein.«
»Er hat kein Recht dazu!«
»Ob er's hat oder nicht, jedenfalls hat er es getan.«
»Und was werden Sie dagegen unternehmen?«
Tom seufzte. »Nichts.«
»Nichts? Was soll das heißen, nichts? Sie werden Ihr Erbe doch nicht in den Wind schießen, oder?«
Tom antwortete nicht sofort. Sie hatten nun den oberen Teil des Plateaus erreicht und hielten an, um die Aussicht zu genießen. Die zahllosen zum San Juan River hinabfüh-renden Canyons waren wie finstere Fraktale in die vom Mond beschienene Landschaft geätzt. Dahinter sah er die gelbe Zusammenballung der Lichter von Bluff, und am Rand des Ortes ein Konglomerat von Gebäuden, aus denen seine bescheidene veterinärmedizinische Praxis bestand.
Links ragten die gewaltigen Steinwirbel des Comb Ridge zum Himmel auf, geisterhafte Gebeine im Mondschein. Sie erinnerten Tom erneut daran, warum er eigentlich hier war.
In den Tagen nach dem Schock, als er erfahren hatte, was sein Vater mit ihrem Erbe gemacht hatte, hatte er eines seiner Lieblingsbücher in die Hand genommen: Platos Repu-blik. Er hatte wieder die Abschnitte gelesen, die sich mit dem Er-Mythos befassten, in denen Odysseus gefragt wurde, welche Existenz ihm in seinem nächsten Leben am liebsten sei. Und was wollte der große Odysseus, der Krieger, Liebhaber, Seemann, Forschungsreisende und König sein?
Ein anonymer Mensch, der in irgendeinem abgelegenen Winkel lebte, »unbeachtet von den anderen«. Er wollte nur ein einfaches und friedliches Leben führen.
Plato hatte es gutgeheißen. Und Tom ebenso.
Deswegen, fiel ihm ein, war er damals nach Bluff gezogen.
Es war unmöglich, bei einem Vater wie Maxwell Broadbent zu leben. Es war ein endloses Drama ständiger Ermahnungen, Herausforderungen, Kritik und Instruktionen. Tom war hierher gekommen, weil er hatte flüchten wollen. Er hatte Frieden finden und alles hinter sich lassen wollen.
Den ganzen Mist - und natürlich auch Sarah. Sarah: Sein Vater hatte sogar versucht, Freundinnen für ihn und seine Brüder auszusuchen. Mit katastrophalen Folgen.