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Als das friedliche Gefühl über ihn hinwegspülte, dachte er sehnsüchtig an den Großen Abflug, das Fortschweben über ein Lichtermeer. Wenn es so weit kam, brauchte er nur noch zwei Dutzend Tabletten einzuwerfen und den Rest des Macallan zu kippen, dann würde er auf ewig in der blauen Tiefe versinken. Dann brauchte er sich vor dem Kongress nicht mehr auf den Fünften zu berufen. Dann brauchte er auch nicht zu behaupten, er sei auch nur ein irregeleiteter inkompetenter Geschäftsführer, der vor der SEC stand. Dann konnte er sich diesen Kenneth-Lay-Scheiß sparen. Dann war er sein eigener Richter, seine eigenen Ge-schworenen, sein eigener Henker. Sein Vater, Sergeant beim Heer, hatte ihn gelehrt, was Ehre war.

Das Einzige, was die Firma hätte retten können, hatte ihr den Todesstoß verpasst. Der große Durchbruch auf dem Arzneimittelmarkt. Alle hatten geglaubt, sie hätten ihn schon in der Tasche. Phloxatan. Mit diesem Medikament, hatten die Erbsenzähler gemeint, könne man die langfristi-gen Kosten für Forschung und Entwicklung problemlos reduzieren, um die laufenden Gewinne hochzutreiben. Sie hatten gesagt, den Analysten würde es nie auffallen, und am Anfang hatten sie es wirklich nicht gemerkt. Es hatte traumhaft funktioniert. Der Preis ihrer Aktien war durch die Decke geschossen. Dann hatten sie angefangen, die laufenden Marketingkosten auf die abschreibbare Forschung und Entwicklung zu verlagern. Als die Aktienkurse weiter gestiegen waren, hatten die Analysten noch immer nichts bemerkt. Dann hatten sie Briefkastenfirmen auf den Cay-man-Inseln und den Niederländischen Antillen Verluste zugewiesen, Kredite als Gewinne verbucht und alles vorhandene Bargeld dazu verwendet, Firmenaktien zurückzukaufen, um den Preis noch weiter hinaufzutreiben und (natürlich) den Wert der ausführbaren Aktienoptionen aufzublähen. Die Aktien hatten einen wahren Höhenflug vollführt. Sie hatten Millionen gescheffelt. Gott, was für ein berauschendes Spiel! Sie hatten jedes Gesetz, jede Regel und sämtliche Strafgesetze gebrochen. Ihr schöpferisches Genie von einem Chefbuchhalter hatte sogar neue erfunden, um sie zu brechen. Und alle selbstherrlichen Aktienla-vierer hatten sich als ungefähr so wahrnehmungsfähig erwiesen wie Yogi Bär. He, ich mach jetzt jede Minute 'nen Dol-lah!

Und jetzt waren sie ganz unten. Es gab keine Regeln mehr, die man beugen oder brechen konnte. Der Markt war endlich aufgewacht. Der Aktienkurs war in den Keller ge-kracht. Jetzt hatten sie keine Tricks mehr im Ärmel. Die Aasgeier kreisten schon über dem Lampe Building in der Avenue of the Americas Nr. 725 und krähten Skibas Namen.

Eine zitternde Hand schob den Schlüssel ins Schloss. Die Schublade glitt auf. Skiba schluckte noch eine bittere Pille und nahm einen weiteren Zug von seinem Scotch.

Dann ertönte ein Summen und kündigte Graff an.

Graff, das Buchhaltungsgenie, der sie in diese Lage gebracht hatte.

Skiba spülte sich den Mund mit einem Schluck Evian aus, dann nahm er noch einen Zug. Und noch einen. Er fuhr sich mit der Hand übers Haar, lehnte sich in den Sessel zurück und riss sich zusammen. Schon spürte er die schleichende Leichtigkeit des Seins, das in seinem Brustkorb anfing und bis in die Fingerspitzen verlief. Es hielt ihn aufrecht, erfüllte ihn mit einem goldenen Leuchten.

Skiba drehte sich in seinem Sessel. Sein Blick fiel kurz auf die Fotos seiner klugen Kleinen, die ihn aus silbernen Rahmen heraus anlächelten. Dann ließ sein Blick zögernd vom Schreibtisch ab und blieb auf dem Gesicht von Mike Graff haften, des Finanzchefs, der den Raum gerade betreten hatte. Graff blieb vor Skiba stehen. Er wirkte eigenartig fein-gliedrig und war von Kopf bis Fuß in makelloses Kamm-garn, in Seide und Baumwolle gekleidet. Graff war Skibas aufstrebender junger Protege gewesen. Man hatte ihn in Forbes porträtiert. Analysten und Investment-Banker hatten ihn hofiert. Bon Appetit hatte über seinen Weinkeller geschrieben; sein Haus hatte man im Architectural Digest vorgestellt. Nun strebte sein Protektionskind nicht mehr nach oben: Er hielt mit Skiba Händchen; sie machten gemeinsam einen Kopfsprung in die Tiefen des Grand Canyon.

»Was ist, Mike?«, fragte Skiba freundlich. »Was ist so wichtig, dass es nicht bis zur Nachmittagskonferenz Zeit hat?«

»Draußen wartet ein Bursche, den du kennen lernen musst. Er hat uns einen interessanten Vorschlag zu unter-breiten.«

Skiba schloss die Augen. Er fühlte sich plötzlich todmüde.

Das gute Gefühl war wie weggeblasen. »Findest du nicht, dass du uns schon genug Vorschläge gemacht hast, Mike?«

»Der hier ist anders. Vertrau mir.«

Vertrau mir. Skiba schwenkte in einer sinnlosen Geste die Hand. Er hörte, dass die Tür aufging, und hob den Kopf.

Der Mann, der gleich darauf vor ihm stand, war ein billiger kleiner Gauner in einem Anzug mit breiten Aufschlägen, ein Typ, der eindeutig zu viel Gold mit sich herumschlepp-te. Es gehörte zu jenen Männern, die ihre fünf Haare über einen kahlen Kontinent kämmten und glaubten, damit sei das Problem gelöst.

»Herrgott, Mike ...«

»Lewis«, sagte Graff nassforsch, »das ist Mr. Marcus Hauser, ein Privatdetektiv. Er war früher fürs Amt für Alkohol, Tabak und Schusswaffen tätig und möchte uns etwas zeigen.« Graff nahm Hauser ein Blatt Papier aus den Händen und reichte es Skiba.

Skiba stierte es an. Es war mit seltsamen Symbolen bedeckt, die Ränder mit Schlängellianen und Blättern bekrit-zelt. Das war Irrsinn. Graff hatte den Verstand verloren.

»Eine Seite aus einem Maya-Manuskript des neunten Jahrhunderts«, fuhr Graff fort. »Man nennt das einen Codex. Es ist ein zweitausend Seiten starker Katalog über Regenwald-

arzneien, ihre Zubereitung und ihren Einsatz.«

Als Skiba begriff, spürte er, wie die Oberfläche seiner Haut sich erhitzte. Es konnte einfach nicht wahr sein.

»Es stimmt. Es geht um viele tausend einheimische pharmazeutische Rezepturen. Sie identifizieren medizinisch aktive Substanzen, die man in Pflanzen, Tieren, Insekten, Spinnen, in Humus und in Schimmel findet. Was immer du willst. Die medizinische Weisheit der Mayas in einem einzigen Band.«

Skiba schaute auf. Zuerst musterte er Graff, dann Hauser.

»Wo haben Sie das her?«

Hauser stand vor ihm, die plumpen Hände gefaltet. Skiba war sich sicher, dass er irgendein Rasierwasser roch. Billig.

»Es hat einem alten Freund von mir gehört«, erwiderte Hauser. Seine Stimme war hoch und nervend. Er sprach mit einem Akzent, der nach Brooklyn klang. Ein frühreifer Al Pacino.

»Mr. Hauser«, sagte Skiba, »es wird zehn Jahre und eine halbe Milliarde für Forschung und Entwicklung kosten, bis eines dieser Medikamente auf den Markt kommt.«

»Stimmt. Aber überlegen Sie mal, was es jetzt für den Preis Ihrer Aktien bedeutet. Soweit ich weiß, schwimmt auf dem Fluss da unten eine Riesenladung Scheiße auf Sie zu.« Hausers feiste Hand deutete durch den Raum.

Skiba schaute ihn an. Was für ein unverschämter Dreck-sack. Er hätte ihn am liebsten sofort hinausgeworfen.

»Ihre Aktie hat heute Morgen mit vierzehn drei Achtel er-

öffnet«, fuhr Hauser fort. »Im letzten Dezember wurde sie um die fünfzig gehandelt. Sie persönlich haben zwei Millionen Optionen zum Schleuderpreis von dreißig bis fünfunddreißig, die Sie im Lauf der nächsten zwei Jahre loswerden müssen. Sie sind alle wertlos, wenn es Ihnen nicht gelingt, den Kurs wieder in die Höhe zu treiben. Und zu allem Übel hat sich Ihr grandioses neues Krebsmedikament Phloxatan als Blindgänger erwiesen und wird von der Federal Drug Administration aus dem Verkehr gezogen ...«

Skiba erhob sich mit rotem Gesicht aus seinem Sessel.

»Wie können Sie es wagen, in meinem Beisein solche Lügen zu verbreiten? Wo haben Sie diese Fehlinformationen her?«

»Mr. Skiba«, sagte Hauser gelassen, »lassen wir dieses Af-fentheater. Ich bin Privatdetektiv. Das besagte Manuskript wird in vier bis sechs Wochen in meinem Besitz sein. Ich möchte es Ihnen verkaufen. Ich weiß, dass Sie es brauchen.