Die Frösche hatten schon mit ihrem abendlichen Gequake angefangen; ihre Laute mischten sich mit rätselhafteren Klängen - Schreien, Blöken, Klopfen und Gekreisch.
»Jetzt sind wir hier, Brüder«, setzte Borabay an.
Das Feuer qualmte und knisterte und vertrieb die abendliche Dunkelheit. Borabay sagte leise: »Auf Berg passieren böse Dinge. Mein Englisch nicht gut, aber ich euch jetzt erzählen, was passieren und was wir müssen tun.« Er legte eine Pause ein. »Aber ich fange Geschichte an Anfang an, vor vierzig Jahre, bevor ich wurde geboren. In das Jahr weißer Mann kommt ganz allein flussaufwärts und über Berge. Kommt in Tara-Dorf halb tot an. Er erster weißer Mann jemand gesehen. Sie ihn schaffen in Hütte, geben zu essen, bringen zurück in Leben. Dieser Mann leben mit Tara-Volk. Er lernen zu sprechen unsere Sprache. Die Leute fragen, warum er kommen. Er sagen, er suchen Weiße Stadt, die wir nennen Sukia Tara. Ist die Stadt von unsere Ahnen. Jetzt wir gehen nur hin, um zu bestatten Tote. Sie bringen ihn nach Sukia Tara. Sie nicht wissen, dass er wollen stehlen in Sukia Tara. Und dann Mann nehmen Tara-Frau als Gattin.«
»Passt zusammen«, sagte Philip mit einem ironischen Lachen. »Vater war immer einer von denen, die sich nebenher ein bisschen was geleistet haben.«
Borabay schaute ihn an. »Wer erzählen Geschichte? Bruder oder ich?«
»Schon gut, mach weiter.« Philip gab Borabay einen Wink.
»Dieser Mann, wie ich sagen, nehmen Tara-Frau zur Gattin. Diese Frau meine Mutter sein.«
»Er hat deine Mutter geheiratet?«, sagte Tom.
»Natürlich er heiraten meine Mutter«, antwortete Borabay. »Wie sonst wir können sein Brüder, Brüder?«
Als Tom begriff, was Borabay sagte, war er sprachlos. Er schaute den Indianer an, als sähe er ihn zum ersten Mal.
Sein Blick wanderte über das bemalte Gesicht, die Tätowierungen, die angespitzten Zähne, die Stöpsel in seinen Ohrläppchen -und ebenso über die grünen Augen, die hohe Stirn, die markigen Lippen, die fein geschnittenen Wan-
genknochen. »Ach du meine Güte!«, keuchte er.
»Was?«, fragte Vernon. »Ja, was ist denn, Tom?«
Tom warf Philip einen Blick zu und merkte, dass auch sein älterer Bruder wie vom Donner gerührt war. Philip stand langsam auf und starrte Borabay an.
»Dann, nachdem Vater heiraten Mutter, Mutter mich geboren. Ich genannt Borabay, nach Vater.«
»Borabay«, murmelte Philip, und dann: »Broadbent.«
Ein langes Schweigen trat ein.
»Versteht ihr denn nicht? Borabay - Broadbent. Es ist der gleiche Name.«
»Du meinst, er ist unser Bruder?«, fragte Vernon ungestüm, als es ihm endlich dämmerte.
Niemand antwortete. Philip, nun auf den Beinen, trat einen Schritt auf Borabay zu und beugte sich vor, um sein Gesicht aus der Nähe zu betrachten, als wäre er eine Art Abnormität. Borabay rührte sich, nahm die Pfeife aus dem Mund und lachte nervös. »Was du sehen, Bruder? Gespenst?«
»Irgendwie schon.« Philip streckte die Hand aus und berührte Borabays Gesicht.
Borabay blieb ruhig sitzen, reglos.
»Mein Gott«, sagte Philip leise. »Du bist wirklich unser Bruder. Außerdem bist du der älteste von uns. Gütiger Gott, ich bin gar nicht der Erstgeborene. Ich bin der zweite und habe es nie gewusst.«
»Das ich doch sagen! Wir alle Brüder. Was du denken, wenn ich sagen >Bruder<? Du glauben, ich scherzen?«
»Wir haben nicht geglaubt, dass du es wörtlich meinst«, erwiderte Tom.
»Warum ihr glauben, ich retten euer Leben?«
»Keine Ahnung. Uns bist du wie ein Heiliger erschienen.«
Borabay lachte. »Ich heilig? Du lustig, Bruder! Wir alle Brüder. Wir alle haben gleichen Vater, Masseral Borabay.
Du Borabay, ich Borabay, wir alle Borabay.« Er klopfte sich auf den Brustkorb.
»Broadbent«, korrigierte Philip. »Der Name ist Broadbent.«
»Borabeyn. Ich sprechen gut. Du mich verstehen. Ich bin Borabay schon lange, so ich bleiben Borabay.«
Sallys Lachen stieg plötzlich zum Himmel empor. Sie war ebenfalls aufgestanden und umkreiste das Lagerfeuer. »Als gäbe es in dieser Gegend nicht schon genug Broadbents!
Und jetzt gibt's sogar noch einen mehr! Vier Stück! Kann die Welt das verkraften?«
Vernon, der den Sachverhalt als Letzter verstanden hatte, war nun der Erste, der wieder einen klaren Gedanken fassen konnte. Er stand auf und ging zu Borabay hinüber. »Ich freue mich, dich als meinen Bruder willkommen zu hei-
ßen«, sagte er und drückte Borabay an sich. Borabay schaute leicht erstaunt drein, dann umarmte auch er Vernon.
Vernon machte Platz, als Tom vortrat und die Hand ausstreckte. Borabay schaute sie verdutzt an.
»Stimmt was nicht mit Hand, Bruder?«
Er ist mein Bruder und weiß nicht mal, wie man sich die Hand schüttelt, dachte Tom. Er umarmte Borabay mit einem Grin-
sen, und der Indianer reagierte mit seiner rituellen Umar-mung. Tom wich zurück, und als er ins Gesicht seines Bruders schaute, konnte er in dessen Zügen seine eigenen erkennen. Und die seines Vaters und seiner anderen Brüder.
Dann war Philip an der Reihe. Er streckte die Hand aus.
»Borabay, ich bin nicht der Typ zum Knuddeln und Küssen. Wir Gringos schütteln uns die Hand. Ich bring es dir bei. Streck die Hand aus.«
Borabay streckte die Hand aus. Philip ergriff und schüttelte sie. Borabays Arm zappelte herum, und als Philip seine Hand freigab, zog Borabay sie an sich und untersuchte, ob sie noch heil war.
»Nun, Borabay«, sagte Philip. »Willkommen im Klub. Im Klub der verarschten Maxwell-Broadbent-Söhne. Die Mit-gliederliste wird täglich länger.«
»Was bedeuten verarscht?«
Philip winkte ab. »Ist nur eine Redensart.«
Auch Sally umarmte Borabay. »Ich bin keine Broadbent«, sagte sie mit einem Lächeln. »Dem Himmel sei Dank.«
Alle nahmen wieder am Feuer Platz. Nun breitete sich verlegenes Schweigen aus.
»Was für ein Familientreffen«, sagte Philip und schüttelte ungläubig den Kopf. »Unser alter Vater ist auch nach seinem Tod noch immer für eine Überraschung gut.«
»Aber das ich wollte erzählen«, sagte Borabay. »Vater sein nicht tot.«
50
Die Nacht war hereingebrochen, doch in den Tiefen der Gruft, in die seit tausend Jahren kein Licht gefallen war, machte das keinen Unterschied. Marcus Hauser trat über den zerbrochenen Türsturz in den tiefen Raum und inhalierte den kühlen Staub der Jahrhunderte. Eigenartig, es roch frisch und sauber hier, ohne den geringsten Hinweis von Verfall oder Fäulnis. Er leuchtete mit dem starken Ha-logenscheinwerfer um sich. Das verstreute Glitzern von Gold und Jade zwinkerte zu ihm zurück und vermischte sich mit braunen Knochen und Staub. Das einst üppig geschmückte Skelett lag auf einer mit Hieroglyphen verzierten steinernen Bestattungsplattform.
Hauser trat vor, hob einen goldenen Ring auf und schüttelte den noch vorhandenen Fingerknochen ab, an dem er befestigt war. Das prächtige Stück war mit einem Jaguarkopf aus Jade verziert. Er schob den Ring in die Tasche und klaubte die anderen Gegenstände auseinander, die an dem Körper vorhanden waren. Er steckte die kleineren Gold-und Jadestücke ein und machte dann gemächlich eine Runde durch die Grabkammer.
Der Schädel des Toten lag am anderen Ende der Plattform.
Irgendwann im Laufe der Jahrhunderte hatte sein Kiefer sich gelöst und war teilweise abgefallen, sodass der Schädel nun irgendwie verblüfft wirkte, als könne er seinen Tod nicht ganz fassen. Das Fleisch war zum größten Teil weg, aber ein dicker Haarzopf lag lose auf dem Hinterkopf. Hauser griff nach dem Schädel und hob ihn auf. Der Kiefer klappte weg und hing nur noch an einigen ausgedörrten Knorpelfäden. Die Vorderzähne waren spitz zugefeilt.