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Borabay stand auf. »Er dein Vater, ob gut oder schlecht. Er dich ernähren, er dich beschützen, er dich aufziehen. Er dich machen.«

Philip stand ebenfalls auf. Er war sichtlich wütend. »So nennst du das scheußliche Verspritzen von Körperflüssig-keit? Uns machen? Wir waren Unfälle - jeder Einzelne. Was ist das für ein Vater, der den Müttern ihre Kinder weg-nimmt? Was ist das für ein Vater, der uns aufzieht, als handle es sich um ein Experiment zur Erschaffung von Genies? Wer hat uns in den Dschungel verschleppt, damit wir hier sterben?«

Borabays Hand schoss auf Philip zu, und zwar so schnell, dass es den Anschein hatte, als verschwände Philip rückwärts im Urwald. Borabay stand da, ein Meter sechzig be-

malte Wut. Er hatte die Fäuste geballt. Philip setzte sich hinter dem Feuer im Staub aufrecht hin und hustete. »Äh

...« Er spuckte aus. Seine Lippe war blutig und schwoll rasch an.

Borabay musterte ihn schwer atmend.

Philip wischte sein Gesicht ab, dann verzog er es zu einem Lächeln. »Nun ja ... Der älteste Bruder hat seinen Platz in der Familie endlich geltend gemacht.«

»Du nicht so über Vater sprechen!«

»Ich spreche über ihn, wie ich will. Und kein gewalttäti-ger, analphabetischer Wilder wird mich dazu bringen, meine Ansichten zu ändern!«

Borabay ballte zwar die Fäuste, machte aber keine Anstal-ten, noch einmal auf Philip loszugehen.

Vernon half Philip beim Aufstehen. Philip tupfte seine Lippe ab. Seine Miene wirkte triumphierend. Borabay stand nun unsicher da; offenbar wurde ihm bewusst, dass er einen Fehler gemacht hatte. Indem er seinen Bruder geschlagen hatte, hatte er die Auseinandersetzung verloren.

»Okay«, sagte Sally. »Genug über Maxwell Broadbent geredet. Wir können uns in Zeiten wie diesen keinen Streit leisten. Das ist euch doch wohl allen klar.«

Ihr Blick fiel auf Borabay. »Sieht so aus, als wäre das Essen verbrannt.«

Borabay nahm schweigend die angekohlten Fleischspieße vom Feuer und legte sie auf Blättern aus.

Philips schroffe Bemerkung hallte in Toms Bewusstsein nach: Das passiert, wenn man ein schlechter Vater ist - die Söhne verlassen einen. Und er fragte sich: Hatten sie das wirklich getan?

55

Mike Graff ließ sich in dem Armsessel am Feuer nieder und schlug die Beine ordentlich übereinander. Seine Miene war aufmerksam und wirkte liebenswürdig. Es erstaunte Skiba, wie es ihm trotz der Lage gelang, diese nassforsche, selbstbewusste Ausstrahlung zu bewahren. Eigentlich müsste auch Graff in Charons Boot über den Styx dem Höllentor entgegenpaddeln, doch er stellte noch immer das frische Gesicht zur Schau, das seinen Mitreisenden weismachte, der Himmel käme gleich um die nächste Ecke.

»Was kann ich für dich tun, Mike?«, fragte Skiba freundlich.

»Was ist seit den letzten beiden Tagen mit unserer Aktie los? Sie ist um zehn Prozent gestiegen.«

Skiba schüttelte den Kopf. Das Haus stand in Flammen, aber Graff lümmelte sich in der Küche und nörgelte über kalten Kaffee. »Freu dich doch, dass wir den Artikel über das Phloxatan im Journal überlebt haben.«

»Umso mehr Grund, sich Gedanken zu machen, warum der Preis raufgeht.«

»Hör mal, Mike ...«

»Du hast Fenner doch letzte Woche nichts über den Codex erzählt, Lewis?«

»Doch, schon.«

»Gütiger Gott! Du weißt doch, was dieser Typ für ein Schleimbeutel ist. Wir haben schon genug Probleme. Wir können es uns nicht leisten, uns auch noch Insidergeschäfte anhängen zu lassen.«

Skiba schaute ihn an. Er hätte ihn längst rauswerfen sollen. Aber er hatte sie beide so kompromittiert, dass eine Entlassung nun nicht mehr in Frage kam. Was spielte es auch für eine Rolle? Es war aus - für Graff, die Firma und besonders für ihn. Am liebsten hätte er über die Irrelevanz der Sache aufgeschrien. Eine bodenlose Kluft hatte sich unter ihm aufgetan - sie befanden sich im freien Fall -, doch Graff hatte es noch immer nicht gespannt.

»Er wollte Lampe in die Pfanne hauen. Ich musste es tun, Mike. Fenner ist kein Blödmann. Er wird kein Wort darüber verlauten lassen. Glaubst du etwa, er riskiert es, sein Leben für ein paar nebenbei verdiente Hunderttausend wegzuwerfen?«

»Soll das ein Witz sein? Der würde doch seine eigene Großmutter über den Tisch ziehen, um ein paar Kröten au-

ßer der Reihe zu verdienen.«

»Fenner steckt nicht dahinter. Jetzt sind die Leerverkäufer am Zug.«

»Das erklärt aber nicht mehr als dreißig Prozent des An-stiegs.«

»Im Gegenteil. Es sind Außenseiter. Es reicht, Mike. Es reicht. Kapierst du denn nicht, was hier abgeht? Es ist aus.

Lampe ist fertig. Wir sind fertig.«

Graff schaute ihn verdutzt an. »Was redest du denn da?

Wir überstehen das schon. Wenn wir erst mal den Codex haben, läuft der Laden wieder wie geschmiert, Lewis.«

Skiba merkte, wie sein Blut bei der Erwähnung des Codex kalt und dickflüssig wurde. »Glaubst du wirklich, der Codex löst unsere Probleme?«, fragte er ruhig.

»Wieso denn nicht? Ist mir irgendwas entgangen? Hat sich irgendwas verändert?«

Skiba schüttelte den Kopf. Spielte es eine Rolle? Spielte überhaupt noch irgendetwas eine Rolle?

»Lewis, der Defätismus, den du ausstrahlst, ist völlig un-typisch für dich. Wo ist deine berühmte Kampfkraft?«

Skiba war müde, unendlich müde. Die Auseinandersetzung führte zu nichts. Die Sache war aus. Fertig. Reden brachte nichts mehr. Sie konnten jetzt nur noch warten.

Warten auf das Ende. Sie waren machtlos.

»Wenn wir bekannt geben, dass wir den Codex haben«, fuhr Graff fort, »geht der Preis unserer Aktie durch die Decke. Nichts macht erfolgreicher als der Erfolg. Die Aktionäre werden uns verzeihen. Und diesem Mr-Saubermann-Vorsitzenden von der SEC wird es den Wind aus den Segeln nehmen. Deswegen sorge ich mich über Insidergeschäfte. Wenn einer jemandem was von dem Codex erzählt, der es seiner Schwiegermutter mitteilt, die dann ihren Neffen in Dubuque anruft ... Es würde an uns hängen bleiben.

Es ist wie Steuerflucht. Das schieben sie dann uns in die Schuhe. Schau mal, was Martha passiert ist ...«

»Mike?«

»Ja?«

»Verpiss dich.«

Skiba schaltete das Licht ab, stöpselte die Telefone aus und wartete auf die Dunkelheit. Auf seinem Schreibtisch befanden sich nur drei Dinge: das Pillenfläschchen aus Kunststoff, der sechzig Jahre alte Macallan und ein sauberes Schnapsglas. Es war Zeit, den Abflug zu machen.

56

Am nächsten Tag verließen sie die aufgegebene Tara-Siedlung und stießen ins Vorgebirge der Sierra Azul vor.

Der durch Wälder und über Wiesen führende Pfad stieg langsam an, und sie kamen an mehreren brachliegenden Feldern vorbei, auf denen das Unkraut wucherte. Hier und da erhaschte Tom einen Blick auf im Regenwald verborgene, verlassene Schilfhütten, die allmählich in sich zusam-menfielen.

Dann drangen sie in einen dichten, kühlen Wald vor. Borabay beharrte plötzlich darauf, allen voraus zu gehen. Im Gegensatz zu seinen sonst leichtfüßigen Bewegungen machte er diesmal allerdings Lärm: Er sang vor sich hin, drosch, obwohl es gar nicht nötig war, mit der Machete auf die Vegetation ein und legte in regelmäßigen Abständen eine »Rast« ein. Tom hatte den Eindruck, dass er in Wirklichkeit die Lage peilte. Irgendetwas machte ihn nervös.

Als sie eine kleine Lichtung erreichten, hielt Borabay an.

Er rief: »Mittagessen!«, fing laut an zu singen und packte die in Palmwedel eingeschlagenen Bündel aus.

»Wir haben doch erst vor zwei Stunden gegessen«, sagte Vernon.

»Wir noch mal Mittag essen!« Borabay nahm Pfeil und Bogen von der Schulter, und Tom registrierte, dass er beides in einer gewissen Entfernung von sich ablegte.