Sally nahm neben Tom Platz. »Irgendwas wird gleich passieren.«
Borabay half beim Ablegen der Rucksäcke und deponierte sie neben den Bogen und Pfeilen auf der anderen Seite der Lichtung. Dann ging er zu Sally, legte einen Arm um sie und zog sie an sich. »Gib mir Gewehr, Sally«, sagte er leise.
Sally ließ das Gewehr von der Schulter gleiten. Anschließend nahm Borabay allen die Macheten weg.
»Was läuft hier ab?«, fragte Vernon.
»Nichts, nichts, wir hier rasten.« Borabay verteilte einige getrocknete Bananen. »Ihr hungrig, Brüder? Sehr gute Bananen!«
»Das gefällt mir nicht«, meinte Philip.
Vernon, dem die unterschwellige Spannung nicht auffiel, langte kräftig zu. »Lecker«, sagte er mit vollem Mund. »Wir sollten jeden Tag zweimal zu Mittag essen.«
»Sehr gut!«, sagte Borabay. »Zweimal zu Mittag essen.«
Er lachte brüllend.
Und dann geschah es. Ohne irgendwelche Geräusche zu vernehmen oder Bewegungen wahrzunehmen, begriff Tom plötzlich, dass sie an allen Seiten von Männern mit straff gespannten Bogen umzingelt waren: Hundert steinerne Pfeilspitzen waren auf sie gerichtet. Ihm war, als hätte der Urwald sich unmerklich zurückgezogen und sie wie Kiesel bei Ebbe enthüllt.
Vernon stieß einen Schrei aus und sank zu Boden. Er wurde sofort von aufgebrachten und nervösen Männern umzingelt. Fünfzig Pfeile zielten aus einer Entfernung von wenigen Zentimetern auf seine Kehle und seinen Brustkorb.
»Nicht bewegen!«, rief Borabay. Er drehte sich um und sprach schnell auf die Fremden ein, die ihre Bogen darauf-hin langsam sinken ließen und zurückwichen. Borabay redete, nun langsamer und weniger schrill, auf sie ein. Er klang aufgeregt. Schließlich wichen die Männer einen weiteren Schritt zurück und senkten die Waffen gänzlich.
»Ihr jetzt bewegen«, befahl Borabay. »Aufstehen. Nicht lächeln. Nicht Hand schütteln. Schauen in Augen von Krieger. Nicht lächeln.«
Sie richteten sich auf und taten, was er gesagt hatte.
»Holt jetzt Gepäck, Waffen und Messer. Keine Angst zeigen. Wütendes Gesicht machen, aber nichts sagen. Wenn ihr lächeln, ihr sterben.«
Alle befolgten Borabays Befehle. Als Tom seine Machete an sich nahm, zuckten die Bogen schnell hoch, doch als er sie in seinen Gürtel schob, wurden sie wieder gesenkt. Er hielt sich genau an Borabays Anweisungen: Er bedachte die Krieger in seiner Nähe mit zornigen Blicken, woraufhin sie ihn ebenso anschauten und ihm die Knie weich wurden.
Borabay sprach nun leiser auf die Krieger ein. Auch er klang jetzt aufgebracht. Seine Worte galten einem Mann, der größer war als die anderen. Seine Oberarme zierte glänzender, an Ringen befestigter Federschmuck. Um seinen Hals schlang sich eine Schnur, an der jedoch kein Edelstein baumelte, sondern der Müll der westlichen Zivilisation: eine sechs Monate freien AOL-Zugang anbietende CD-ROM, ein durchbohrter Taschenrechner und eine alte Telefon-Wählscheibe.
Der Krieger blickte Tom an und trat vor. Er blieb stehen.
»Bruder, du gehen ein Schritt auf Krieger zu und sagen wütend, er sich entschuldigen müssen.«
Tom hoffte bloß, dass Borabay die Psychologie der Lage richtig einschätzte. Er trat dem Krieger entgegen. »Wie könnt ihr es wagen, mit euren Bogen auf uns zu zielen?«, sagte er.
Borabay übersetzte. Der Krieger antwortete ihm aufgebracht und deutete mit seinem Speer auf Toms Gesicht.
Borabay übersetzte erneut. »Er sagen: >Wer ihr sein? Warum ihr kommen in Tara-Land ohne Einladung?< - Du sagen wütend, wir gekommen, um zu retten Vater. Du ihn anschreien.«
Tom gehorchte. Er wurde laut, machte einen Schritt in Richtung Krieger und brüllte ihn an. Die Antwort des Kriegers klang noch wütender; außerdem schwenkte er seinen Speer genau vor Toms Nase. Gleichzeitig hoben zahlreiche andere Krieger wieder ihre Bogen.
»Er sagen, Vater machen viel Ärger für Tara; er deshalb sehr wütend. Bruder, du müssen nun sein noch mehr wütend! Du sagen, sie Bogen runternehmen. Du sagen, du erst reden, wenn Bogen weg. Mach große Beleidigung.«
Tom, inzwischen gehörig ins Schwitzen geraten, gab sich alle Mühe, das Entsetzen zu verdrängen, das er empfand, und Zorn vorzutäuschen. »Wie könnt ihr es wagen, uns zu bedrohen?«, brüllte er. »Wir sind in Frieden in euer Land gekommen - und ihr droht uns mit Krieg? Behandeln die Tara so ihre Gäste? Seid ihr Tiere oder Menschen?«
Tom bemerkte, dass Borabay sehr zufrieden wirkte, als er seine Worte übersetzte. Zweifellos fügte er seiner Rede noch einige passende Nuancen hinzu.
Die Bogen der Krieger senkten sich. Diesmal nahmen sie die Pfeile an sich und schoben sie in ihre Köcher.
»Du jetzt lächeln. Kurz lächeln, kein großes Lächeln.«
Tom lächelte knapp, dann wurde seine Miene wieder ernst.
Borabay hielt eine längere Rede, dann wandte er sich wieder Tom zu. »Du den Krieger jetzt auf Tara-Art umarmen und küssen.«
Tom umarmte den Krieger verlegen und küsste ihn so, wie er es von Borabay kannte, mehrmals seitlich am Hals.
Mit dem Ergebnis, dass anschließend rote und gelbe Farbe auf seinem Gesicht und an seinen Lippen klebte. Der Krieger revanchierte sich für seine Höflichkeit und bekleckste ihn noch mehr.
»Gut«, sagte Borabay. Er war vor Erleichterung fast hysterisch. »Jetzt alles ist gut! Wir gehen jetzt in Tara-Dorf.«
Das Dorf bestand aus einem freien Platz mit festgetretenem Boden. Er war von zwei unregelmäßig geformten Kreisen mit der Art Schilfhütten umgeben, in denen sie die vergangene Nacht verbracht hatten. Sie wiesen keine Fenster auf.
In der Decke waren Löcher. Vor vielen Hütten brannten Kochfeuer, die von Frauen beaufsichtigt wurden. Wie Tom auffiel, verwendeten sie die französischen Kochtöpfe, Kup-ferpfannen und die rostfreien Solinger Bestecke, die sein Vater damals er-
standen hatte. Als sie den Kriegern auf den Dorfplatz folgten, gingen überall Schilftüren auf und Unmengen Menschen drängten ins Freie, um sie zu begaffen. Die kleineren Kinder waren splitternackt; die älteren trugen schmutzige Shorts oder einen Lendenschurz. Die Frauen waren mit Stofffetzen bekleidet, die sie sich um die Taille schlangen.
Sie waren barbusig; ihre Brüste waren mit roter Farbe bemalt. Viele hatten kleine Metallscheiben an den Lippen und Ohren. Nur die Männer trugen Federschmuck.
Es gab keine formelle Begrüßungszeremonie. Die Krieger, die sie mitgebracht hatten, verteilten sich und gingen völlig uninteressiert ihren Geschäften nach. Nur die Frauen und Kinder starrten sie neugierig an.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Tom, als sie auf dem Platz standen und sich umschauten.
»Warten«, erwiderte Borabay.
Kurz darauf kam eine zahnlose Greisin aus einer Hütte.
Sie war so alt, dass sie gebückt auf einen Stock gestützt ging. Ihr kurzes weißes Haar verlieh ihr etwas Hexenhaftes.
Sie kam den Neuankömmlingen quälend langsam entgegen. Ohne den Blick ihrer kugelrunden Augen von ihnen abzuwenden, schnalzte sie mit der Zunge und murmelte etwas vor sich hin. Schließlich blieb sie vor Tom stehen und schaute zu ihm auf.
»Nichts tun«, sagte Borabay leise.
Die Greisin hob eine faltige Hand und versetzte Tom einen Schlag über die Kniescheiben. Dann drosch sie - für eine Frau ihres Alters erstaunlich schmerzhaft - dreimal auf seine Oberschenkel ein, wobei sie weiter etwas vor sich hin murmelte. Schließlich hob sie ihren Knüppel und schlug auf Toms Schienbeine sowie auf seinen Hintern ein. Am Ende ließ sie den Knüppel sinken und griff ihm in den Schritt. Tom schluckte und versuchte nicht zusammenzu-zucken, als sie seine Männlichkeit einer eingehenden Prüfung unterzog. Dann deutete sie auf seinen Kopf und bewegte die Finger. Als Tom sich ein wenig vorbeugte, griff sie in sein Haar und zog so heftig daran, dass ihm die Tränen kamen.