Die Greisin wich zurück. Die Untersuchung schien abgeschlossen zu sein. Nun schenkte sie Tom ein zahnloses Lächeln und setzte zu einer längeren Rede an.
Borabay übersetzte: »Sie sagen, du eindeutig Mann, obwohl anders aussehen. Sie dich und deine Brüder einladen, als Gäste in Tara-Dorf zu bleiben. Sie annehmen eure Hilfe, um zu kämpfen gegen böse Männer in Weiße Stadt. Sie sagen, du jetzt Boss.«
»Wer ist sie?« Tom musterte die Greisin kurz. Sie begaffte ihn noch immer vom Scheitel bis zur Sohle.
»Sie sein Frau von Cah. Pass auf, du ihr gefallen. Sie vielleicht kommt heute Nacht in deine Hütte.«
Dies löste die Spannung, und alle lachten, wobei Philip der Lauteste war.
»Von was bin ich der Boss?«, fragte Tom.
Borabay schaute ihn an. »Du jetzt Kriegshäuptling.«
Tom war sprachlos. »Ja, wieso denn das? Ich bin doch gerade mal zehn Minuten hier.«
»Sie sagen, Tara-Krieger bei Angriff auf weiße Männer versagen. Viele sterben. Du auch weißer Mann. Du verstehen Feind besser. Du morgen führst Angriff gegen böse Männer.«
»Morgen?«, sagte Tom. »Vielen Dank, aber diese Verantwortung muss ich ablehnen.«
»Du keine Wahl«, erklärte Borabay. »Sie sagen, wenn du nicht tust, Tara-Krieger uns alle töten.«
An diesem Abend entzündeten die Dorfbewohner ein Freudenfeuer, das ein Fest einleitete. Ein mehrgängiger Schmaus nahm seinen Anfang. Er wurde auf Blättern serviert. Der Höhepunkt des Festessens war ein in einem Erd-loch gebratener Tapir. Die Männer tanzten, dann erklang ein beklemmend fremdartiges Flötenkonzert mit Borabay als Solist. Alle gingen spät zu Bett. Einige Stunden später weckte Borabay sie wieder. Es war noch dunkel.
»Wir jetzt gehen. Du sprechen zu Volk.«
Tom schaute ihn an. »Ich muss eine Rede halten?«
»Ich dir helfen.«
»Das muss ich sehen«, sagte Philip.
Das Freudenfeuer war mit frischem Brennstoff versorgt worden. Tom stellte fest, dass wirklich das ganze Dorf schweigend und respektvoll darauf wartete, dass er eine Ansprache hielt.
»Du zu mir sagen, ich suchen zehn beste Krieger für Kampf aus, Tom«, sagte Borabay leise.
»Kampf? Für welchen Kampf?«
»Wir kämpfen gegen Hauser.«
»Wir können doch nicht ...«
»Sei still - tu, was ich sage«, zischte Borabay.
Tom gab den erbetenen Befehl, und Borabay marschierte durch die Menge, klatschte in die Hände, klopfte verschiedenen Männern auf die Schulter, und fünf Minuten später standen zehn Krieger in einer Reihe neben ihnen. Sie waren bemalt, trugen Federschmuck und Halsketten sowie Bogen und Pfeilköcher.
»Du jetzt Rede halten.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Du sprechen große Worte. Wie du retten wirst Vater und tötest böse Männer. Keine Sorgen machen. Was du auch sagen, ich gut reparieren.«
»Vergiss bloß nicht, jedem ein Huhn im Pott zu garantie-ren«, meinte Philip.
Tom trat vor und schaute den versammelten Dorfbewoh-nern ins Gesicht. Das Volksgemurmel ebbte schnell ab. Die Eingeborenen schauten ihn voller Hoffnung an. Tom spürte, wie es ihm vor Angst kalt den Rücken hinunterlief. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte.
»Ahm ... Meine Damen und Herren ...«
Borabay schenkte ihm einen missbilligenden Blick und schrie in rauflustigem Tonfall etwas hervor, das viel wirkungsvoller klang als die mickrige Einleitung, die Tom gerade zustande gebracht hatte. Ein Raunen ging durch die Menge; alle richteten ihre Aufmerksamkeit auf Tom. Tom hatte plötzlich das Gefühl, all dies schon einmal erlebt zu haben. Dann fiel ihm ihre Abreise aus Pito Solo - und Don Alfonsos Ansprache an sein Volk - ein. Er musste ebenfalls eine solche Rede halten, selbst wenn sie nur aus Lügen und Phrasen bestand.
Er atmete tief ein. »Freunde! Wir sind von einem fernen Ort namens Amerika ins Land der Tara gekommen!«
Sobald das Wort Amerika fiel, machte sich - noch bevor Borabay mit der Übersetzung begann - Aufregung breit.
»Wir sind viele tausend Kilometer mit einem Flugzeug, mit einem Einbaum und zu Fuß gereist. Wir waren vierzig Tage und Nächte unterwegs.«
Borabay trug dies vor. Tom bemerkte nun, dass die Aufmerksamkeit der Menge allein ihm galt.
»Das Volk der Tara leidet unter einem großen Übel. Ein Barbar namens Hauser ist mit seinen Söldnern vom anderen Ende der Welt gekommen, um es auszurotten und seine Gräber zu plündern. Er hat euren Oberpriester entführt und eure Krieger getötet. In diesem Moment hält er sich in der Weißen Stadt auf und entweiht sie durch seine Anwesen-heit.«
Borabay übersetzte. Das Volk murmelte sein Einverständnis.
»Wir, die vier Söhne von Maxwell Broadbent, sind gekommen, um das Tara-Volk von diesem Mann zu befreien.
Wir sind gekommen, um unseren Vater, Maxwell Broadbent, aus der Finsternis seiner Gruft zu erretten.«
Tom wartete, bis Borabay übersetzt hatte. Fünfhundert vom Feuerschein erhellte Gesichter schenkten ihm ungeteilte Aufmerksamkeit.
»Mein Bruder Borabay wird uns in die Berge führen, wo wir die bösen Männer beobachten wollen, um einen An-griffsplan zu schmieden. Morgen werden wir gegen sie kämpfen.«
Nach diesen Worten ertönten urplötzlich merkwürdige Laute, die wie ein schnelles Grunzen oder ein Lachen klangen - es war vermutlich die Tara-Entsprechung eines Johlens und Klatschens. Kniich verkroch sich in die Tiefen der Hemdtasche, um sich zu verstecken.
»Du sie nun bitten zu beten und ein Opfer zu bringen«, sagte Borabay leise zu Tom.
Tom räusperte sich. »Das Volk der Tara - ihr alle - spielt in der bevorstehenden Auseinandersetzung eine wichtige Rolle. Ich bitte euch, für uns zu beten. Ich bitte euch, für uns ein Opfer zu bringen. Ich bitte euch, dies jeden Tag zu tun, bis wir siegreich zurückkehren.«
Borabay wiederholte die Deklaration mit schallender Stimme, und ihre Auswirkung war elektrisierend. Die Menschen strömten aufgeregt murmelnd nach vorn. Tom fühlte sich irgendwie von verzweifelter Sinnlosigkeit überwältigt. Diese Menschen trauten ihm mehr zu als er sich selbst.
Eine heisere Stimme wurde laut. Die Leute wichen auf der Stelle zurück, bis Cahs Gattin allein da stand, auf ihren Stock gestützt. Sie schaute auf und nahm Tom genau in Augenschein. Langes Schweigen machte sich breit, dann hob sie schließlich ihren Stock, holte aus und versetzte ihm einen festen Schlag auf die Oberschenkel. Tom gab sich alle Mühe, weder zu zucken noch das Gesicht zu verziehen.
Dann rief die Greisin mit heiserer Stimme etwas, das er nicht verstand.
»Was hat sie gesagt?«
Borabay wandte sich um. »Ich nicht wissen, wie übersetzen ... Sie sagen starke Tara-Redensart. Bedeuten so viel wie Du töten oder sterben.«
57
Professor Julian Clyve legte die Beine hoch, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und lehnte sich in den alten Sessel zurück. Es war ein stürmischer Tag im Mai, und der Wind zerrte an den Blättern der Sykomore vor seinem Fenster. Sally war nun seit über einem Monat fort. Sie hatte ihm keine Nachricht geschickt. Er hatte auch nicht damit gerechnet, doch das lange Schweigen beunruhigte ihn nun doch. Als sie abgereist war, waren sie davon ausgegangen, der Codex würde seinem Leben einen weiteren akademi-schen Triumph hinzufügen. Doch nach ein, zwei Wochen des Nachdenkens hatte Clyve es sich anders überlegt. Er war ein hochkarätiger Gelehrter; er hatte einen Lehrstuhl in Yale; er hatte jede Menge akademische Ehrungen einge-heimst und mehr publiziert als andere Professoren in ihrem ganzen Leben. Tatsache war, dass weitere akademische Ehrungen ihm gestohlen bleiben konnten. Er wollte sich nicht in die Tasche lügen: Er brauchte Geld. Die Werte der amerikanischen Gesellschaft stimmten nicht. Die wahren Beloh-nungen - finanziellen Wohlstand - kriegten nicht die intel-lektuellen Macher, denen sie am meisten zustanden. Der Brain Trust, der die riesige dumme Viehherde, das vulgus mobile, lenkte, dirigierte und disziplinierte, ging leer aus.