Ihre Augen funkelten, ihr goldenes Haar leuchtete in der Sonne. Tom hatte sie noch nie von solcher Lebenskraft sprühen gesehen. Nach dem wenigen Schlaf, den sie gehabt hatten, erschien ihm das wirklich erstaunlich.
Sally drehte sich um und schaute ihm in die Augen. Tom hatte den Eindruck, dass sie seine Gedanken erriet. Ihre Wangen röteten sich leicht, dann schaute sie weg und lächelte vor sich hin.
Philip nahm das Fernglas an sich und unterzog die Stadt einer Prüfung. Tom hörte ihn überrascht Luft holen. »Da unten sind Menschen«, sagte Philip. »Sie fällen vor der Pyramide Bäume.«
Man hörte das ferne Krachen von Dynamit. In der Stadt stieg eine Staubwolke auf, die wie eine kleine weiße Blüte aussah.
»Wir müssen Vaters Grabkammer vor ihnen finden«, sagte Tom. »Sonst ...« Er ließ den Satz unbeendet.
59
Sie verbrachten den restlichen Nachmittag im Schutz der Bäume und beobachteten Hauser und sein Gefolge. Ein Kommando befreite einen Steintempel vor der Pyramide vom Bewuchs, während ein anderes sich in eine kleinere Pyramide in der Nähe hineinsprengte. Der umschlagende Wind ließ sie etwa alle halbe Stunde das schwache Heulen einer Kettensäge und das ferne Grollen von Explosionen hören. Dann stiegen Staubwolken auf.
»Wo ist Vaters Gruft?«, fragte Tom Borabay.
»Auf Klippen unterhalb von Stadt, auf andere Seite. Ort von Toten.«
»Kann Hauser ihn finden?«
»Ja. Weg nach unten ist versteckt, aber irgendwann er ihn finden. Vielleicht morgen. Vielleicht zwei Wochen.«
Bei Einbruch der Nacht flammten in der Weißen Stadt zwei Jupiterlampen auf. Zwei weitere erhellten die Hängebrücke und das sie umgebende Gelände. Hauser ging kein Risiko ein. Außerdem war er gut ausgerüstet, er hatte sogar einen Generator dabei.
Sie verzehrten schweigend das Abendessen. Tom schmeckten die Frösche, Eidechsen oder woraus Borabays Mahlzeit auch immer bestand, nicht besonders. Soweit er es von ihrem Aussichtspunkt auf dem Kamm sehen konnte, war die Weiße Stadt auf Abwehr bestens eingerichtet und fast uneinnehmbar.
Als sie mit dem Essen fertig waren, sprach Philip aus, was alle dachten: »Ich glaube, wir machen lieber die Fliege und holen Verstärkung. Allein kriegen wir das nicht hin.«
»Angenommen, sie finden und öffnen die Gruft, Philip«, sagte Tom. »Was werden sie deiner Meinung nach dann tun?«
»Sie werden sie ausrauben.«
»Nein. Zuerst wird Hauser Vater ermorden.«
Philip antwortete nicht.
»Wir brauchen mindestens vierzig Tage, nur um hier wegzukommen. Wenn wir Vater retten wollen, müssen wir jetzt handeln.«
»Ich möchte zwar nicht derjenige sein, der es ablehnt, Vater zu retten, aber ... Tom, sei vernünftig, wir haben eine alte Knarre, etwa zehn Schuss Munition und ein paar bemalte Krieger mit Pfeil und Bogen. Die anderen haben Automatikwaffen, Granatwerfer und Dynamit. Außerdem haben sie den Vorteil, dass sie die Stadt aus einer unglaublich sicheren Position heraus verteidigen.«
»Den haben sie allerdings nicht mehr, falls es einen geheimen Weg in die Stadt gibt«, erwiderte Tom.
»Kein geheimer Weg da«, sagte Borabay. »Nur Brücke.«
»Es muss einen zweiten Weg geben«, sagte Tom. »Wie hätten sie die Brücke sonst bauen können?«
Borabay schaute ihn an, und Tom empfand einen Anflug von Triumph.
»Götter haben Brücke gebaut«, sagte Borabay.
»Götter bauen keine Brücken.«
»Götter haben diese Brücke gebaut.«
»Verdammt, Borabay! Die Götter haben diese Brücke nicht gebaut. Menschen haben sie gebaut, und dazu mussten sie von beiden Seiten aus arbeiten!«
»Du hast Recht«, meinte Vernon.
»Götter haben Brücke gebaut«, sagte Borabay stur. »Aber«, fügte er dann hinzu, »Tara-Volk auch weiß, wie man Brücke baut von eine Seite.«
»Das ist unmöglich.«
»Bruder, du immer genau wissen, du haben Recht? Ich dir sagen, wie Tara haben Brücke gebaut von eine Seite. Zuerst Tara schießen Pfeil mit Seil und Haken ab. Pfeil treffen Baum auf andere Seite. Dann Tara schicken kleinen Jungen in Korb an Räder an Seil entlang.«
»Und wie kommt er rüber?«
»Er sich selbst ziehen.«
»Wie kann jemand ein Seil mit einem Haken mit Pfeil und Bogen über eine zweihundert Meter breite Schlucht schie-
ßen?«
»Tara nehmen großen Bogen und besonderen Pfeil mit Feder. Sehr wichtig, zu warten auf Tag mit starke Wind in richtige Richtung.«
»Erzähl weiter.«
»Wenn kleine Junge drüben, Mann schießen zweiten Pfeil mit Seil. Kleine Junge binden Seile zusammen, legen Seil um kleines Rad ...«
»Einen Flaschenzug?«
»Ja. Dann mit Flaschenzug Mann kann rüberziehen viele Dinge. Zuerst er ziehen rüber dickes Tau in Korb, das er entrollen, wenn unterwegs. Junge kann dickes Tau an Baum festmachen. Nun kann Mann gehen über dickes Tau.
Jetzt Mann und Junge sind auf andere Seite. Mann benutzt zweites Flaschenzug, um noch drei Taue auf andere Seite zu ziehen. Eins nach anderes. Jetzt vier Taue überspannen Schlucht. Dann mehr Männer überqueren in Korb ...«
»Das reicht«, unterbrach Tom ihn. »Ich verstehe, was du meinst.«
Die Unglaublichkeit ihrer Lage wurde ihnen bewusst, und sie verfielen in Schweigen.
»Haben die Tara-Krieger schon versucht, die Leute in einen Hinterhalt zu locken und die Brücke zu kappen?«
»Ja. Viele dabei sterben.«
»Haben sie es mit Brandpfeilen versucht?«
»Können Brücke nicht erreichen.«
»Eines dürfen wir nicht vergessen«, warf Philip ein.
»Wenn die Brücke gekappt wird, sitzt Vater ebenfalls fest.«
»Dessen bin ich mir bewusst. Ich gehe nur unsere Möglichkeiten durch. Vielleicht können wir Hauser ein Geschäft vorschlagen: Wenn er Vater rauslässt, kann er die Grabkammer und die Reichtümer behalten. Wir überschreiben ihm alles, und dann hat sich die Sache.«
»Damit wäre Vater nie einverstanden«, sagte Vernon.
»Auch dann nicht, wenn es sein Leben rettet?«
»Er wird an Krebs sterben.«
»Oder unser Leben?«
Philip schaute sie an. »Ihr dürft nicht mal daran denken, Hauser zu vertrauen oder ihm ein Geschäft vorzuschlagen.«
»Na schön«, sagte Vernon. »Dass wir die Weiße Stadt an-derweitig erreichen, können wir ausschließen. Einen Fron-talangriff können wir sowieso vergessen. Ist jemand unter uns, der weiß, wie man einen Drachen baut?«
»Nein.«
»Dann bleibt uns nur eine Möglichkeit.«
»Und die wäre?«
Vernon ebnete ein Stück Boden neben dem Feuer, ritzte eine Landkarte in den Boden und erläuterte seinen Plan.
Als er fertig war, ergriff Philip als Erster das Wort.
»Es ist ein irrer Plan.« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin dafür, dass wir umkehren, Hilfe holen und wiederkommen.
Es kann Monate dauern, bis wir Vaters Grabkammer gefunden haben.«
Borabay mischte sich ein: »Ich glauben, du nicht verstehen, Philip. Wenn wir jetzt gehen, Tara-Volk uns töten.«
»Scheiße.«
»Wir geben Versprechen. Können Versprechen nicht brechen. «
»Ich hab kein Scheißversprechen abgegeben«, erwiderte Philip. »Das war Tom. Außerdem können wir uns am Dorf vorbeischleichen und längst über alle Berge sein, bevor einer bemerkt, dass wir weg sind.«