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Jetzt mussten sie nur noch zurückkehren.

63

Die wackelige, sich vor Tom erstreckende Bambusbrücke schaukelte scheppernd im Aufwind und ließ Kletterpflanzen und Blattwerk in die riesige, unter ihm gähnende Schlucht hinabbaumeln. Der Nebel war so dicht, dass er kaum sieben Meter weit sah. Der laute Wasserfall hallte wie das dumpfe, ferne Brüllen einer wütenden Bestie aus der Tiefe zu ihm herauf. Die Brücke bebte bei jedem Schritt.

Borabay war als Erster losgegangen. Vernon und Philip waren ihm gefolgt. Tom bildete den Abschluss.

Sie gingen seitlich über das untere Tau, und zwar unterhalb des Brückenbodens, damit niemand sie sah. Tom folgte seinen Brüdern so schnell wie möglich, ohne dabei seine Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Der aufsteigende Dunst hatte das Haupttau feucht und schlüpfrig gemacht. Der geflochtene Hanf war porös und angefault. Viele der senkrecht verlaufenden Seile waren gerissen, sodass Lücken zwischen ihnen klafften. Bei jedem Windstoß von unten schwankte die Brücke hin und her. In solchen Fällen hielt Tom inne und klammerte sich fest, bis es vorbei war. Er versuchte, nur an den Schritt zu denken, der als nächster kam. Ein Schritt nach dem anderen, sagte er sich. Ein Schritt nach dem anderen.

Ein Seil - es war vergammelter als die anderen - löste sich unter seiner Hand auf. Über dem Abgrund erfasste ihn ein kurzes, grauenhaftes Schaudern, dann bekam er ein anderes Seil zu fassen. Tom hielt an, bis sein Herz wieder nor-

mal schlug, dann ging er vorsichtig weiter. Er überprüfte die Seile, indem er an ihnen ruckte, bevor er ihrer Festigkeit vertraute. Er schaute nach vorn. Seine Brüder waren kaum mehr als im Dunst huschende, ins wechselnde Halblicht des hinter ihnen leuchtenden Scheinwerfers getauchte Schemen.

Je weiter sie sich vorwagten, desto mehr schaukelte und schwankte die Brücke. Der Bambus knackte, die Taue ächz-ten und seufzten, als wären sie lebendig. In der Mitte nahmen die Windströmungen zu, wehten nach oben und schüttelten sie durch. Hin und wieder ließ eine heftige Bö die Brücke erzittern und auf beängstigende Weise rucken.

Tom dachte spontan an Don Alfonsos Geschichte über die bodenlose Schlucht, in der die Abgestürzten sich endlos um ihre Achse drehten, bis sich das Fleisch von ihnen löste und ihre Knochen zu Staub zerfielen. Es schüttelte ihn, und er versuchte, jeden Blick nach unten zu vermeiden, doch um die Füße an die richtige Stelle zu setzen, war er gezwungen, in die Schwindel erregende Tiefe zu schauen, aus deren bodenloser Finsternis die Dunstschwaden aufstiegen. Sie hatten die Mitte fast erreicht. Tom sah die Stelle, an der die Brücke den tiefsten Punkt ihrer Krümmung erreichte; von da stieg sie langsam wieder an, um auf der anderen Seite der Schlucht zu enden.

Eine außergewöhnlich heftige Bö wogte zu ihnen hoch und ließ die Brücke plötzlich schaukeln. Tom packte fester zu und wäre beinahe abgerutscht. Dann hörte er einen gedämpften Schrei und sah zwei verfaulte Seilenden, die sich heftig im Aufwind drehten, vor ihm in die Schlucht stürzen. Philip baumelte plötzlich im Nichts; sein Ellbogen war um das Tau geschlungen. Seine Beine drehten sich in der Leere.

Oh, mein Gott, dachte Tom. Er eilte weiter und wäre um ein Haar selbst abgerutscht. Sein Bruder hatte keine Chance, sich längere Zeit so festzuhalten. Tom erreichte die Stelle, die genau über Philip lag. Philip baumelte schweigend in der Luft und versuchte, ein Bein nach oben zu schwingen. Sein Gesicht war verzerrt. Er brachte vor Entsetzen kein Wort hervor. Vernon und Borabay waren vor ihnen bereits im Dunst verschwunden.

Tom ging in die Knie. Er schlang einen Arm um das senkrechte Seil und versuchte, den anderen unter Philips Arm zu schieben. Plötzlich rutschten ihm seine Füße davon, und auch er baumelte kurz über dem Abgrund. Es gelang ihm, sich wieder aufzurichten. Sein Herz hämmerte in seiner Brust. Sein Blick umwölkte sich vor Entsetzen. Er konnte kaum atmen.

»Tom«, würgte Philip. Seine Stimme war so schrill wie die eines Kindes.

Tom machte sich über Philip auf dem Tau klein. »Schwing dich nach oben«, sagte er mit ruhiger Stimme. »Du musst mir helfen. Schwing dich hoch. Ich pack dich dann.« Er griff mit einem Arm nach unten und machte sich bereit, Philips Gürtel zu ergreifen.

Philip unternahm einen erneuten Versuch, sich nach oben zu schwingen und das Tau mit den Füßen zu umklammern, aber er bekam nicht genug Schwungkraft, und sein Bemühen führte nur dazu, dass er weiter abrutschte. Er stieß einen kurzen Schrei aus, und Tom sah, wie die weißen Handknöchel seines Bruders das Tau eisenhart umklammert hielten. Ein schriller, von Entsetzen kündender Laut drang aus Philips Kehle.

»Probier's noch mal«, rief Tom. »Schwing dich hoch!

Hoch!«

Philips Gesicht verzerrte sich, als er der Anweisung folgte. Tom versuchte, seinen Gürtel zu fassen zu kriegen, doch sein Fuß rutschte erneut ab. Einen entsetzlichen Augenblick lang baumelte sein Bein in der Leere, und er klammerte sich an ein vergammeltes Seil. Dann zog er sich wieder hoch und versuchte, sein wild schlagendes Herz zu beruhigen.

Ein Bambusstück, das sich durch ihre Aktionen gelöst hatte, stürzte sich langsam drehend in die Tiefe, bis es aus seinem Blickfeld verschwunden war.

Er hat vielleicht noch fünf Sekunden, dachte Tom. Philip hatte nur noch eine Chance. »Schwing dich hoch. Fahr vollen Einsatz - selbst wenn du dabei loslassen musst. Mach schon! Eins, zwei, drei!«

Philip schwang sich nach oben. Diesmal griff Tom zu. Er klammerte sich mit dem anderen Arm an das verrottete Seil, damit er sich weit genug vorbeugen konnte, um Philips Gürtel zu fassen zu kriegen. Einen Augenblick lang befanden sie sich beide in der Schwebe. Das Seil trug den Hauptteil ihres gemeinsamen Gewichts. Dann zog Tom Philip mit einer gewaltigen Anstrengung hinauf, sodass er auf das Tau sank und es wie einen Rettungsring umklammerte.

Sie verharrten, hielten sich an den Seilen fest. Beide waren zu entsetzt, um etwas zu sagen. Tom hörte Philip rasselnd nach Luft schnappen.

»Philip?«, brachte er schließlich hervor. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

Philips rasselnder Atem normalisierte sich.

»Du hast es geschafft.« Tom wollte den Satz so sachlich wie möglich klingen lassen. »Alles klar. Wir haben es hinter uns. Du bist in Sicherheit.«

Wieder kam eine Bö und ließ die Brücke schwanken. Philip stieß einen gurgelnden Laut aus. Er umklammerte das Seil mit aller Kraft.

Eine Minute verging. Sie dauerte sehr lange.

»Wir müssen weiter«, sagte Tom. »Du musst aufstehen.«

Wieder ein Windstoß. Die Brücke tanzte und wackelte.

»Ich kann nicht.«

Tom verstand, was er meinte. Auch er hatte das dringende Bedürfnis, sich am Haupttau festzuhalten und den Rest seines Lebens dort zu verbringen.

Die Dunstschwaden lösten sich auf. Von unten kamen weitere Windstöße. Sie waren nun wirklich gewaltig. Die Brücke schaukelte. Sie bewegte sich aber nicht wie sonst, sondern ihr Schaukeln endete stets mit einer ruckenden Drehung, die sie jedes Mal in die unter ihnen herrschende Düsternis zu schleudern drohte.

Dann flaute das Beben ab.

»Philip, steh auf.«

»Nein.«

»Du musst. Und zwar sofort.« Eines hatten sie nämlich sicher nicht: Zeit. Der Nebel hatte sich aufgelöst. Die Jupiterlampe leuchtete hell. Die Soldaten brauchten sich nur umzudrehen, dann mussten sie die beiden Männer sehen. Tom streckte eine Hand aus. »Halt dich fest. Ich hiev dich hoch.«