Er drehte sich zu Philip um. »Ich Feigling«, sagte er und reichte ihm die Fackel. »Du mutiger als ich, Brüderchen. Du gehen.«
Philip klopfte Borabay kurz auf die Schulter, dann nahm er die Fackel und betrat die Gruft. Tom und Vernon schlös-sen sich ihm an.
Der Raum war nicht groß. Er maß etwa fünf Quadrat-meter. In der Mitte ragte eine Steinplattform auf. Auf ihr hockte eine eingewickelte Mumie - noch immer aufrecht, die Knie bis zum Kinn hinaufgezogen, die Hände im Schoß gefaltet. Die langen schwarzen Haare des Toten waren im Nacken zu einem Zopf geflochten, seine vertrockneten Lippen ließen die Zähne sehen. Der Unterkiefer hing herab; er schien einen Gegenstand ausgespuckt zu haben. Als Tom genauer hinsah, sah er, dass es sich um eine Insektenlarve aus Jade handelte. Die Mumie hielt einen glatten, etwa fünf-undvierzig Zentimeter langen und mit Schriftzeichen verzierten Holzstab in der Hand und war von Grabbeigaben in Form von Terrakotta-Figürchen, zerbrochenen Töpfen und beschrifteten Steintafeln umgeben.
Tom hockte sich hin, um in Erfahrung zu bringen, wie die Tür sich bewegen ließ. Eine Rille verlief über den Steinboden. In sie waren glatte Steinwalzen eingesetzt, auf denen die Tür ruhte. Da die Walzen nicht befestigt waren, nahm Tom eine an sich und reichte sie Philip. Philip musterte sie von allen Seiten.
»Es ist ein einfacher Mechanismus«, erklärte er. »Man versetzt die Tür ins Rollen, dann geht sie von selbst auf. Die Frage ist nur: Wie versetzt man sie ins Rollen?«
Sie untersuchten die Tür von allen Seiten, fanden aber keine offensichtliche Antwort. Als sie die Gruft verließen, wartete Borabay auf sie. Seine Miene zeugte von Angst.
»Was finden?«
»Nichts«, sagte Philip.
Als Vernon aus der Gruft kam, hielt er den Holzstab in der Hand, den die Mumie umklammert hatte. »Was ist das, Borabay?«
»Schlüssel zu Unterwelt.«
Vernon lächelte. »Interessant.« Als sie zur Grabkammer ihres Vaters zurückkehrten, nahm er den Stab mit. »Komisch, dass er so perfekt in die Luftlöcher passt«, sagte er.
Er schob den Stab in mehrere Löcher hinein, bis er in einem beinahe stecken blieb. »Man kann die aus den Löchern kommende Luft deutlich spüren.« Er ging von einem Loch zum anderen, prüfte die Luftströme mit der Hand und blieb dann stehen. »Hier ist eins, aus dem keine Luft dringt.«
Er schob den Stab hinein. Nach rund fünfunddreißig Zentimetern ging es nicht mehr weiter. Zehn Zentimeter ragten ins Freie. Vernon hob einen schweren glatten Stein auf und reichte ihn Philip.
»Die Ehre gebührt dir. Hau drauf.«
Philip packte den Stein, spannte sich an, holte aus und ließ ihn mit aller Wucht auf den aus dem Loch ragenden Stab krachen. Es machte Ratsch. Der Stab flutschte in das Loch. Dann herrschte Stille.
Nichts passierte. Philip begutachtete das Loch. Der Holzstab war bis ans Ende hineingerutscht und steckte fest.
»Verdammt noch mal!«, schrie er aufgebracht. Er stürzte sich auf die Grufttür und versetzte ihr einen festen Tritt.
»Geh auf, du Mistding!«
Urplötzlich ertönte ein mahlendes Geräusch. Der Boden vibrierte. Die Steintür glitt langsam beiseite. Ein dunkler Spalt wurde sichtbar. Als die Tür auf den Steinwalzen in der Rille dahinglitt, wurde der Spalt nach und nach breiter.
Kurz darauf hielt sie mit einem dumpfen Schlag an.
Die Gruft war offen.
Alle standen da und starrten auf das gähnende schwarze Rechteck. Die Sonne ging gerade über dem fernen Gebirge auf und badete die Felsen in goldenes Licht. Ihr Einfalls-winkel war jedoch zu schräg, um in das Gruftinnere zu dringen, und deswegen blieb auch weiterhin alles absolut schwarz. Niemand rührte sich. Sie waren wie gelähmt und zu ängstlich, um etwas zu sagen oder auch nur überrascht aufzuschreien. Eine pestilenzartige Wolke von Verwesungder Gestank des Todes - wehte ihnen aus dem Grab entgegen.
67
Marcus Aurelius Hauser wartete im angenehmen Licht der Morgendämmerung. Sein Finger streichelte den schlichten Abzug der Steyr AUG. Abgesehen von seinem Körper war die Waffe vermutlich der Gegenstand, den er am besten kannte. Ohne sie fühlte er sich nie ganz normal. Der von der ständigen Berührung erwärmte Metalllauf fühlte sich fast lebendig an, und der Kunststoffschaft, den seine Hände seit Jahren streichelten, war so glatt wie ein Frauenschenkel.
Hauser drückte sich auf dem zur Totenstadt hinabführen-den Pfad in eine bequeme Nische. Obwohl er die Broadbents von seinem erhöhten Aussichtspunkt nicht sah, wusste er, dass sie sich unter ihm befanden und den gleichen Rückweg nehmen mussten. Sie hatten seine Hoffnung exakt erfüllt und ihn zur Gruft des alten Max geführt. Und nicht nur zu einer Grabkammer, sondern zu einer ganzen Totenstadt. Unglaublich. Irgendwann wäre er gewiss auch auf diesen Weg gestoßen, aber es hätte sicher lange gedauert.
Nun hatten die Broadbents ihren Zweck erfüllt. Aber er war nicht in Eile. Die Sonne stand noch nicht hoch genug.
Er wollte ihnen noch viel Zeit gönnen, damit sie es sich bequem machen konnten; damit sie sich entspannten und in Sicherheit wähnten. Außerdem wollte er das Unternehmen noch einmal überdenken. In Vietnam hatte er etwas sehr Wichtiges gelernt: Geduld. Schließlich hatte der Vietcong den Krieg mit Geduld gewonnen.
Hauser schaute sich erfreut um. Die Totenstadt war atemberaubend. Tausende mit Beigaben gefüllte Gräber. Ein mit Früchten beladener Baum, reif zum Pflücken. Ganz zu schweigen von den ganzen wertvollen Antiquitäten, Säulen, Statuen und sonstigen Schätzen, die da in der Weißen Stadt herumlagen. Obendrein enthielt Broadbents Gruft noch Kunstgegenstände im Wert von einer halben Milliarde Dollar. Er würde den Codex und ein paar leichtere Objekte mitnehmen und mit dem Erlös seine Rückkehr finanzieren.
Ja, er würde ganz sicher hierher zurückkehren. In der Weißen Stadt lagen Milliarden herum. Milliarden.
Hauser schob eine Hand in seinen Brotbeutel, tätschelte eine Zigarre und erlaubte ihr mit Bedauern, weiterhin ihr Dasein zu fristen. Es war vielleicht keine gute Idee, sich mit Zigarrenrauch zu verraten.
Gewisse Opfer musste man eben bringen.
68
Die vier Brüder standen wie angewurzelt da und starrten das finstere Rechteck an. Sie konnten sich weder rühren noch etwas sagen. Die Sekunden tickten dahin und wurden zu Minuten. Der faulig riechende Luftstrom ebbte ab. Keiner wagte sich einen Schritt nach vorn, um die Grabkammer zu betreten. Keiner wollte sehen, welches Grauen sich darin befand.
Dann hörten sie ein Geräusch. Ein Husten. Dann ein anderes: schlurfende Schritte.
Alle waren wie gelähmt. Keiner brachte einen Ton heraus.
Wieder das Schlurfen. Tom wurde klar: Ihr Vater lebte noch. Er kam aus der Gruft heraus. Tom konnte sich noch immer nicht rühren. Den anderen erging es ebenso. Als die Spannung schier unerträglich wurde, tauchte in der Mitte des schwarzen Rechtecks ein geisterhaftes Gesicht auf. Ein weiterer schlurfender Schritt, dann wurde in der Finsternis eine Erscheinung sichtbar. Noch ein Schritt brachte die Gestalt in die Wirklichkeit.
Er wirkte grauenhafter als eine Leiche, als er leicht wankend vor ihnen stehen blieb und blinzelte. Er war splitternackt, verschrumpelt, gebückt, schmutzig, klapperdürr und roch wie der personifizierte Tod. Rotz lief ihm aus der Nase. Sein Kiefer hing wie der eines Irren herunter. Er blinzelte, zog den Rotz hoch und blinzelte erneut ins Licht der Morgendämmerung. Sein Blick war farblos, leer, nicht begreifend.
Maxwell Broadbent.
Die Zeit verging. Sie standen noch immer sprachlos und wie angewurzelt da.
Broadbent schaute sie an. Eines seiner Augen zuckte. Er blinzelte erneut, dann richtete er sich auf. Der Blick seiner tief in den Höhlen liegenden Augen huschte von einem zum anderen. Er holte lange und rasselnd Luft.