So gern Tom es auch getan hätte - er konnte sich weder bewegen noch etwas von sich geben. Er musterte seinen Vater, dessen Gestalt sich nun etwas weiter aufrichtete.
Wieder huschte sein Blick über ihre Gesichter, eingehender diesmal. Er hustete. Seine Lippen bewegten sich kurz, doch er sprach kein Wort. Dann hob er eine zittrige Hand und stieß ein Krächzen aus. Tom und die anderen beugten sich vor in dem Bemühen, ihn zu verstehen.
Broadbent räusperte sich, knurrte, kam einen Schritt näher. Er holte noch einmal Luft und sagte endlich etwas:
»Warum habt ihr so lange gebraucht, verdammt?«
Es brüllte aus ihm heraus, hallte über die Klippen hinweg und warf in der Grabkammer Echos. Der Bann war gebrochen. Es war ihr Vater, wie er leibte und lebte. Tom und die anderen eilten herbei, um den alten Mann zu umarmen.
Maxwell Broadbent drückte sie heftig an sich - alle zugleich und dann noch einmal jeden Einzelnen. Seine Arme waren überraschend kräftig.
Nach einer ganzen Weile machte er einen Schritt zurück.
Er wirkte nun so, als habe er seine alte Größe wiedererlangt.
»Herrgott«, sagte er und wischte sich übers Gesicht.
»Herrgott. «
Alle schauten ihn an. Keiner wusste, wie er reagieren sollte.
Der alte Mann schüttelte seinen wuchtigen grauen Schädel. »Herrgott, bin ich froh, dass ihr hier seid. Gott, was muss ich stinken. Schaut mich an. Ich bin schlichtweg widerlich. Nackt, verdreckt, abstoßend!«
»Ganz und gar nicht«, erwiderte Philip. »Hier, nimm das.« Er zog sein Hemd aus.
»Danke, Philip.« Maxwell streifte sich das Hemd über und knöpfte es zu, wobei seine Finger schwerfällig herum-hantierten. »Wer kümmert sich eigentlich um deine Wäsche? Das Hemd sieht ja schauerlich aus.« Sein Versuch zu lachen endete in einem Hustenanfall.
Als Philip anfing, seine Hose auszuziehen, hob Broadbent Einhalt gebietend eine massive Hand. »Ich lass meine Söhne doch hier nicht strippen ...«
»Vater ...«
»Sie haben mich nackt bestattet. Ich bin dran gewöhnt.«
Borabay griff in seinen Palmwedelrucksack und zog ein langes, gemustertes Stück Leinen hervor. »Du das hier anziehen.«
»Dann mach ich mal auf Einheimisch, was?« Broadbent wickelte sich den Stoff schwerfällig um die Taille. »Wie wird das befestigt?«
Borabay half ihm, den Stoff mit einer geflochtenen Hanf-kordel an der Taille zu binden.
Der alte Mann knotete die Schnur fest und blieb wortlos stehen. Niemand wusste, was er sagen sollte.
»Gott sei Dank, dass du am Leben bist«, ließ Vernon verlauten.
»Zuerst war ich mir da gar nicht so sicher«, erwiderte Broadbent. »Als ich eine Weile da drin war, dachte ich, ich sei tot und zur Hölle gefahren.«
»Ja, wie denn das?«, sagte Philip. »Der alte Atheist glaubt plötzlich an die Hölle?«
Broadbent schaute zu ihm auf, lächelte und schüttelte den Kopf. »Es hat sich viel verändert.«
»Sag bloß nicht, du hast jetzt zu Gott gefunden.«
Broadbent wiegte den Kopf, klopfte Philip auf die Schulter und gab ihm einen liebevollen Klaps. »Freut mich, dich zu sehen, mein Sohn.«
Er wandte sich zu Vernon um. »Dich auch, Vernon.« Er begutachtete sie alle mit seinen faltigen blauen Augen.
»Tom, Vernon, Philip, Borabay - ich bin überwältigt.« Er legte einem nach dem anderen die Hand auf den Kopf. »Ihr habt es geschafft. Ihr habt mich gefunden. Mein Proviant und mein Wasser sind fast aufgebraucht. Ich hätte vielleicht noch ein, zwei Tage durchgehalten. Ihr habt mir eine zweite Chance gegeben. Ich habe sie zwar nicht verdient, aber ich will sie nutzen. Ich habe in dieser dunklen Gruft über vieles nachgedacht ...«
Er schaute auf und warf einen Blick auf das violette Meer von Bergen und den goldenen Himmel. Dann reckte er sich und atmete ein.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Vernon.
»Falls du den Krebs meinst... Ich weiß genau, dass er noch da ist. Er hat mich nur noch nicht umgemäht. Ich hab noch ein paar Monate. Das Scheißzeug ist in meinem Gehirn - ich hab's euch nie erzählt. Aber bisher ist es ganz gut gegangen. Ich fühle mich großartig.« Er schaute sich um. »Lasst uns von hier verschwinden.«
»Leider wird das so einfach nicht gehen«, meinte Tom.
»Wieso nicht?«
Tom warf einen kurzen Blick auf seine Brüder. »Wir haben ein Problem - es heißt Hauser.«
»Hauser?!« Broadbent war verdutzt.
Tom nickte. Dann berichtete er ihm alle Einzelheiten von ihrer anfangs ja getrennten Reise.
»Hauser!«, wiederholte Broadbent und schaute Philip an.
»Du hast dich mit diesem Schweinehund eingelassen?«
»Tut mir Leid«, sagte Philip. »Ich dachte ...«
»Du dachtest, er wüsste vielleicht, wo ich stecke. Es war mein Fehler: Ich hätte diese Möglichkeit vorhersehen müssen. Hauser ist ein erbarmungsloser Sadist. Einmal hätte er fast ein Mädchen umgebracht. Es war der größte Fehler meines Lebens, mich mit ihm zusammenzutun.« Broadbent ließ sich auf einem Felsen nieder und schüttelte seinen zer-zausten Kopf. »Ich kann es kaum fassen, welche Gefahren ihr auf euch genommen habt, um hierher zu kommen. Gott, was habe ich für einen Fehler gemacht - der letzte von vielen gleichwohl.«
»Du unser Vater sein«, sagte Borabay.
Broadbent schnaubte. »Ja, aber was für einer! Dass ich euch einer so verdammten Prüfung unterzogen habe! Damals hat mir die Idee gefallen. Ich verstehe nicht, was in mich gefahren war. Was war ich doch für ein dämlicher, bescheuerter, alter Idiot.«
»Na ja, so wie in Meine drei Söhne ging's bei uns nicht gerade zu«, warf Philip ein.
»Vier Söhne«, sagte Borabay.
»Oder ... Gibt's vielleicht noch mehr?«, fragte Vernon mit gerunzelter Stirn.
Broadbent schüttelte den Kopf. »Meines Wissens nicht.
Hätte ich doch nur genug Grips gehabt, um zu erkennen, was für Prachtkerle ihr seid.« Seine blauen Augen richteten sich auf Vernon. »Abgesehen von dem Bart, Vernon. Herrgott, wann rasierst du das Gekröse endlich ab? Du siehst doch aus wie ein Mullah.«
»Du bist auch nicht gerade gut rasiert«, erwiderte Vernon.
Broadbent winkte lachend ab. »Na, dann lass es eben. Alte Gewohnheiten lassen sich nur schwer ausrotten. Dann behältst du deinen verdammten Bart eben.«
Ein verlegenes Schweigen breitete sich aus. Die Sonne stieg höher über die Berge, das goldene Licht wurde weiß.
Ein Vogelschwarm flog trillernd über sie hinweg, stieß in die Tiefe hinab, schwang sich hoch hinauf und wechselte wie eine militärische Formation die Richtung.
Tom wandte sich an Borabay. »Wir müssen unseren Fluchtplan überdenken.«
»Ja, Bruder. Ich schon darüber nachgedacht. Wir hier war-
ten bis dunkel ist. Dann wir gehen zurück.« Borabay blickte zum klaren Himmel hinauf. »Heute Nacht Regen, gibt uns Deckung.«
»Was ist mit Hauser?«, fragte Broadbent.
»Er suchen Gruft in Weiße Stadt. Er noch nicht daran denken, auf Klippen zu suchen. Ich glaube, wir an ihm vorbei-kommen. Er nicht wissen, dass wir hier.«
Broadbent warf einen Blick in die Runde. »Ihr habt nicht zufällig was zum Futtern dabei? Das Zeug, das sie mir in die Gruft gelegt haben, war als Henkersmahlzeit nicht viel wert.«
Borabay entnahm seinem Palmwedelrucksack etwas Proviant und breitete ihn aus. Broadbent schlurfte schwerfällig zu ihm hinüber. »Frisches Obst. Mein Gott.« Er nahm eine Mango und biss hinein. Der Saft lief ihm aus dem Mund und tropfte auf sein Hemd. »Himmlisch.« Er stopfte sich die Mango in den Mund, aß eine zweite und verputzte dann einige Curwas und ein paar geräucherte Eidechsenfi-lets.
»Borabay, du könntest ein Restaurant eröffnen.«