Grabbeigaben aus. Ich bin Profi, und wie die meisten Profis halte ich nichts vom Töten.« Stimmt. Sein Finger liebkoste die glatte Kunststoffkrümmung des Abzugs, fand den Druckpunkt und schob ihn langsam in Schnellfeuerposition. Jetzt hatte er die Broadbents, wo er sie haben wollte.
Jetzt konnten sie nichts mehr tun. Sie waren so gut wie tot.
»Keinem wird etwas zuleide getan.« Er konnte einfach nicht dagegen an - er musste es einfach hinzufügen: »Keiner wird auch nur das Geringste spüren.« Er übte nun wirklich Druck aus, fühlte das kaum wahrnehmbare Nachgeben des Abzugs, das er so gut kannte; die Millisekunde der Ent-spannung nach dem Ertasten des Widerstandes. Gleichzeitig sah er am Rand seines Blickfeldes eine rasche Bewegung. Vor seinen Augen zuckten Blitze auf, er fiel hin und feuerte im Sturz wild um sich. Die Kugeln prallten von den Felswänden ab. Bevor Hauser auf dem Steinboden landete, konnte er einen flüchtigen, erschreckenden Blick auf das werfen, was da über ihn gekommen war.
Das Etwas war geradewegs aus der Gruft gefegt. Es war halb nackt, sein Gesicht so weiß wie eine Vampirfratze. Die Augen lagen tief in den Höhlen. Es stank nach Verwesung, seine knochigen Gliedmaßen waren so grau und hohl wie der Tod. Es schwenkte eine brennende Fackel, mit der es ihn zu Boden geschlagen hatte, und drosch, den Mund voller brauner Zähne, erneut kreischend auf ihn ein.
Der Teufel sollte ihn holen, wenn das nicht Maxwell Broadbents Geist war!
72
Als Hauser zu Boden fiel, überschlug er sich, ohne die Waffe loszulassen. Er fuhr herum, um wieder in Schussposition zu gelangen, doch es war zu spät: Maxwell Broadbents zerlumpter Geist hatte sich auf ihn gestürzt. Er brüllte, schlug um sich und drosch Hauser die Fackel ins Gesicht. Funkenschauer stoben auf. Hauser roch versengtes Haar. Er versuchte, die Hiebe mit einer Hand abzuwehren, während er das Gewehr mit der anderen umklammert hielt. Es war unmöglich, einen Schuss abzugeben, solange der Angreifer im Begriff war, ihm mit der brennenden Fackel die Augen aus-zustechen. Da gelang es Hauser, sich loszureißen. Er lag auf dem Rücken, drückte blindlings ab und schlug in der Hoffnung, irgendetwas zu treffen, mit dem Lauf um sich. Doch das Gespenst schien verschwunden zu sein.
Hauser hörte auf zu schießen und setzte sich vorsichtig hin. Sein Gesicht und sein rechtes Auge fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Er riss die Feldflasche aus seinem Rucksack und besprengte sich die Wangen mit Wasser.
Gott, tat das weh!
Er tupfte das Wasser ab. Heiße Asche und Funken hatten sich in seine Nasenlöcher, unter ein Augenlid, in sein Haar und die Backe gefressen. War das monströse Etwas aus der Grabkammer wirklich ein Geist gewesen? Hauser öffnete sein rechtes Auge. Es schmerzte. Als er es vorsichtig mit der Fingerkuppe betastete, bemerkte er, dass nur die Braue und das Lid verletzt waren. Die Hornhaut war intakt, er konnte noch sehen. Er schüttete etwas Wasser auf ein Taschentuch, wrang es aus und legte es sich aufs Gesicht. Was war passiert, verdammt? Obwohl er immer mit dem Unerwarteten rechnete, war er in seinem ganzen Leben noch nie so erschrocken. Er hatte das Gesicht sogar noch nach vierzig Jahren wiedererkannt. Er kannte jedes Detail, jeden Ausdruck, jedes Muskelzucken. Es gab keinen Zweifeclass="underline" Maxwell Broadbent war höchstpersönlich wie ein kreischender Totengeist aus der Grabkammer gestürmt. Broadbent, den er tot und begraben gewähnt hatte: weiß wie ein Bettlaken, Haar und Bart gesträubt, ausgemergelt wie ein Skelett. Und außer sich.
Hauser fluchte. Was hatte er sich da bloß gedacht? Broadbent lebte und befand sich in diesem Moment auf der Flucht. Um wieder klar denken zu können, schüttelte Hauser in plötzlicher Wut den Kopf. Was war los mit ihm, verdammt? Er hatte sich blenden lassen. Sein Herumgehocke hatte den Broadbents mindestens einen dreiminütigen Vorsprung verschafft.
Hauser schulterte rasch die Steyr AUG, machte einen Schritt nach vorn und blieb wieder stehen.
Auf dem Boden war Blut. Der Fleck war unübersehbar und so groß wie ein halber Dollar. Nicht weit von ihm entfernt sah er einen ebenso großen zweiten. Hauser stellte fest, dass er langsam ruhiger wurde. Benötigte er womöglich eine Bestätigung, dass Broadbents angeblicher Geist echtes Blut verströmte? Er hatte ihn also doch getroffen.
Vielleicht auch einen der anderen? Streifschüsse aus einer Steyr AUG waren nicht von Pappe. Hauser gönnte sich einen Augenblick, um das Spritzmuster zu analysieren, die Menge des Blutes, die Flugbahn. Die Wunde war keine Kleinigkeit. Insgesamt lag der Vorteil noch immer auf seiner Seite.
Er schaute zu der Steintreppe hinauf, dann lief er los, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Er wollte ihre Fährte aufnehmen. Er würde sie aufspüren und umbringen.
73
Während die Schüsse noch in den fernen Bergen wider-hallten, hetzten sie die Treppen durch die Felsen hinauf.
Als sie den Pfad auf dem Klippengipfel erreichten, liefen sie auf die grüne Wand aus Lianen- und Kletterpflanzen zu, die die Ruinen der Brustwehr der Weißen Stadt überwucherten. In ihrem Deckung bietenden Schatten sah Tom seinen Vater straucheln. Ein dünner Blutfaden lief an seinem Bein herab.
»Wartet! Vater ist verletzt!«
»Es ist nichts.« Broadbent stolperte erneut und stöhnte auf.
Vor der Mauer hielten sie kurz an.
»Lasst mich in Ruhe!«, brüllte der alte Mann.
Tom scherte sich nicht um ihn. Er wischte ihm das Blut von der Wunde ab, untersuchte sie und lokalisierte die Stellen, wo die Kugel ein- und ausgetreten war. Sie war schräg durch die rechte Seite des Unterbauchs gefahren, hatte den Bauchmuskel durchschlagen und schien, ohne die Nieren zu treffen, hinten ausgetreten zu sein. Noch konnte man nicht ausmachen, ob sie auch die Bauchhöhle erwischt hatte. Tom verdrängte diese Möglichkeit und tastete die Umgebung der Wunde ab. Sein Vater ächzte. Er war zwar ernstlich verwundet und verlor Blut, aber wenigstens waren keine Arterien oder wichtige Adern durchtrennt worden.
»Beeilung!«, brüllte Borabay.
Tom zog sein Hemd aus und riss mit aller Gewalt zwei Streifen von dem Stoff ab. Dann band er sie seinem Vater so fest wie nur möglich um die Magengrube, um den Blutver-lust zu stoppen.
»Leg mir einen Arm um die Schultern«, sagte Tom.
»Ich nehm den anderen«, erklärte Vernon.
Tom spürte, wie sich der Arm um ihn legte. Er war so dünn und hart wie ein Stahltau. Er machte sich kleiner, denn er wollte seinem Vater einen Teil seines Gewichts abnehmen. Dabei merkte er, dass ihm warmes Blut am Bein hinablief.
»Auf geht's!«
»Uff«, stöhnte Broadbent. Als sie sich in Bewegung setzten, wankte er leicht.
Sie liefen an der Mauer entlang und hielten nach einem Durchgang Ausschau. Borabay tauchte in einen von Lianen überwachsenen Türrahmen ein. Sie hetzten über einen Hof und gelangten durch die nächste Tür in einen eingestürzten Gang. Da Tom und Vernon ihren Vater stützten, kam er zwar relativ schnell von der Stelle, doch er stöhnte und schnaufte vor Schmerzen.
Borabay hielt nun genau auf den am dichtesten bewachsenen Teil der Ruinenstadt zu. Sie eilten durch finstere Gänge und halb eingestürzte Untertunnelungen, in denen gewaltige Wurzeln durch die erhaltenen Teile der Steindecke wuchsen. Beim Laufen dachte Tom an den Codex und alles andere, was sie nun hier zurückließen.
Während der Flucht wechselten sie sich mit dem Stützen ihres Vaters ab und passierten eine Reihe matt erhellter Tunnels. Hin und wieder bog Borabay, der sie anführte, urplötzlich ab und vollzog eine Kehrtwende, um ihren Verfolger abzuschütteln. Dann kamen sie plötzlich in ein aus Riesenbäumen bestehendes Gehölz, das an zwei Seiten von massiven Steinmauern umgeben war. Das schwach zu ihnen durchdringende Licht schimmerte dunkelgrün. Steinsäulen mit Maya-Schriftzeichen waren wie Wächter in dem Hain verteilt.