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Tom hörte seinen Vater zuerst rasselnd Luft holen und dann gedämpft fluchen.

»Tut mir Leid, dass es wehtut.«

»Mach dir keine Sorgen um mich.«

Sie marschierten zwanzig Minuten lang weiter, bis der Urwald wild, üppig und dicht wurde. Schling- und Kletterpflanzen bedeckten die Bäume und verliehen ihnen das Aussehen grüner Riesengespenster. Auf ihren Wipfeln ragten Ranken wie die Stacheln eines Igels in die Luft, als suchten sie nach neuer Beute. Überall hingen schwere Blüten.

Und unablässig tropfte Wasser zu Boden.

Borabay blieb stehen und schaute sich um. »Dort entlang«, sagte er und deutete auf die dichteste Stelle.

»Wie denn?« Philip musterte die schier undurchdringliche Mauer aus Pflanzen.

Borabay ging in die Knie und kroch in eine kleine Öffnung hinein. Die anderen taten es ihm gleich. Max stöhnte vor Schmerzen auf. Unter den dichten Ranken versteckt, erspähte Tom einige Wildwechseclass="underline" Tunnels, die unterhalb der Vegetation in alle möglichen Richtungen führten. Sie stießen in den vor, der am meisten zugewachsen war, und zwängten sich ebenso hindurch wie die Tiere, die ihn geschaffen hatten. Der Pfad war finster und roch übel. Sie krochen fast eine Ewigkeit - sie dauerte in Wirklichkeit wohl nur an die zwanzig Minuten - durch einen fantastischen Irrgarten aus sich verzweigenden und überschnei-denden Pfaden, bis sie an einen freien Platz gelangten. Die unteren Äste eines von Kletterpflanzen umhüllten Baumes erzeugten einen von allen Seiten uneinsehbaren zeltartigen Raum, eine Art Höhle inmitten der Vegetation.

»Wir hier bleiben«, sagte Borabay. »Warten auf Nacht.«

Broadbent ließ sich mit einem Ächzen nach hinten an den Baumstamm sinken. Tom beugte sich über ihn, löste die vom Blut durchtränkten Verbände und untersuchte die Wunde. Sie war schlimm. Borabay, der sich neben ihn kniete, sah sie sich ebenfalls sorgfältig an. Dann nahm er einige unterwegs gepflückte Blätter, zerrieb sie zwischen den Händen und machte zwei Wickel.

»Was hast du vor?«, fragte Tom leise.

»Halten Blut auf, helfen bei Schmerzen.«

Sie legten die Wickel über das Ein- und Ausschussloch.

Vernon spendierte sein Hemd. Tom riss es in Streifen, die er dann zur Befestigung der Wickel verwendete.

»Uff!«, keuchte Broadbent.

»Tut mir Leid, Vater.«

»Hört auf, euch zu entschuldigen, und zwar alle. Ich möchte gefälligst stöhnen, ohne dass sich jemand entschuldigt.«

»Du hast uns gerade das Leben gerettet, Vater«, sagte Philip.

»Nachdem ich es zuvor in Gefahr gebracht hatte.«

»Hättest du Hauser nicht angefallen, wären wir jetzt alle tot.«

»Die Sünden meiner Jugend kehren zurück, um mich zu plagen.« Broadbent zuckte zusammen.

Borabay hockte sich auf die Fersen und schaute sie der Reihe nach an. »Ich jetzt gehen. Ich zurück in halbe Stunde.

Wenn nicht ... Wenn Nacht kommt, ihr warten, bis regnet, dann gehen ohne mich über Brücke. Verstanden?«

»Wo gehst du hin?«, fragte Vernon.

»Ich mir Hauser schnappen.«

Borabay sprang auf und weg war er.

Tom zögerte. Wenn er den Codex haben wollte, hieß es jetzt oder nie.

»Ich muss auch noch was erledigen.«

»Was?« Philip und Vernon schauten ihn ungläubig an.

Tom schüttelte den Kopf. Er war jetzt nicht artikulations-fähig, und außerdem hatte er keine Zeit, sein Vorhaben zu verteidigen. Vielleicht war es ja auch gar nicht zu begrün-den. »Wartet nicht auf mich. Wir treffen uns heute Abend an der Brücke. Sobald das Gewitter anfängt.«

»Bist du verrückt geworden, Tom?«, grollte Max.

Tom antwortete nicht. Er drehte sich um und verschwand im Dschungel.

In zwanzig Minuten war er aus dem Rankengewirr ins Freie gekrochen und stand auf, um sich zu orientieren: Die Grabkammern lagen im Osten. Das wusste er mit Sicherheit.

So dicht am Äquator musste die Sonne vormittags noch am östlichen Himmel stehen. Er kannte also die generelle Richtung. Über seine Entscheidung - ob es richtig oder falsch war, seinen Vater und seine Brüder allein zu lassen, ob es verrückt oder zu gefährlich war - wollte er jetzt lieber nicht nachdenken. Eigentlich ging es um etwas völlig anderes: Er musste den Codex einfach an sich bringen. Er wandte sich gen Osten.

74

Hausers Augen suchten den Boden ab, lasen ihn wie ein Buch: Ein festgetretenes Samenkorn. Ein geknickter Grashalm. Von einem Blatt gewischter Tau. Spurenlesen hatte er in Vietnam gelernt. Nun wies ihm jede Einzelheit die genaue Richtung, die die Broadbents genommen hatten. Ebenso gut hätten sie Brotkrumen verstreuen können. Mit der Steyr AUG im Vorhalt folgte er schnell und methodisch ihrer Route. Es ging ihm nun besser. Er war entspannter, fast friedlich gestimmt. Er hatte die Jagd schon immer als etwas eigenartig Verlockendes empfunden. Nichts war mit dem Gefühl vergleichbar, eine menschliche Beute zu jagen.

Es war tatsächlich das gefährlichste Spiel überhaupt.

Seine nichtswürdigen Soldaten gruben und sprengten noch immer am anderen Ende der Stadt. Gut. Damit hatten sie eine Beschäftigung. Die Jagd auf Broadbent und seine Söhne war die Aufgabe eines einsamen Jägers, der ungesehen durch den Urwald pirschte. Für derlei Dinge konnte man einen lärmenden Trupp von schwachsinnigen Soldaten nicht gebrauchen. Hauser war im Vorteil. Er wusste, dass die Broadbents unbewaffnet waren und die Brücke überqueren mussten. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie einholen würde.

Sobald sie ins Gras gebissen hatten, konnte er die Gruft in aller Ruhe plündern, den Codex und die tragbaren Kunstwerke mitnehmen und den Rest später abholen. Nun, da er Skiba weich geklopft hatte, wusste er ziemlich genau, dass er mehr als nur fünfzig Millionen aus ihm herauspressen konnte. Vielleicht sogar viel mehr. Die Schweiz war eine gute Basis. Von diesem Land aus ließ es sich operieren. So hatte Broadbent es ja auch gemacht: Er hatte Antiquitäten fragwürdiger Herkunft über die Schweiz verschoben und behauptet, sie entstammten einer alten Schweizer Sammlung.

Zwar ließen sich seine Meisterwerke nicht auf dem freien Markt verkaufen, da sie schlichtweg zu berühmt waren und jeder wusste, dass sie ihm gehörten, aber unter der Hand waren sie bestimmt da und dort zu verscherbeln. Es gab immer einen saudischen Scheich, einen japanischen Indus-triellen oder einen amerikanischen Milliardär, der ein schönes Gemälde besitzen wollte und sich nicht groß für seine Herkunft interessierte.

Hauser gebot diesen angenehmen Phantasien Einhalt und richtete seine Aufmerksamkeit auf den Boden. Auch da war der Tau von einem Blatt gewischt. Und dort befand sich ein Blutfleck auf dem Boden. Er folgte der Fährte in einen verfallenen Gang und schaltete seine Lampe ein. Von einem Stein gekratztes Moos. Ein Fußabdruck auf dem weichen Boden. Jeder Idiot konnte diese Spuren lesen.

Hauser folgte den Markierungen, so schnell er nur konnte. Er fühlte sich wie ein Bluthund. Als er in ein riesiges Gehölz eintauchte, erblickte er eine besonders deutliche Fährte: Die Broadbents hatten auf ihrer kopflosen Flucht einen Haufen verfaultes Laub aufgerührt.

Zu eindeutig. Hauser blieb stehen. Er lauschte. Dann duckte er sich und untersuchte sorgfältig den Boden. Amateurhaft. Der Vietcong hätte sich kaputtgelacht: ein umgeboge-ner junger Baum, eine unter Blättern versteckte Lianen-schlinge; ein fast unsichtbarer Stolperdraht. Hauser wich vorsichtig einen Schritt zurück, nahm einen Stock, der - wie günstig - in der Nähe lag, und schob ihn unter die Fußan-gel.

Ein Knacken. Der junge Baum schoss in die Höhe, die Schlinge zog sich zusammen. Hauser spürte ein plötzliches Lüftchen und ein Ziehen an seinem Hosenbein. Er schaute nach unten. In der losen Bügelfalte seiner Hose steckte ein kleiner Pfeil. Von seiner im Feuer gehärteten Spitze tropfte eine dunkle Flüssigkeit.