Der Giftpfeil hatte ihn um knapp zweieinhalb Zentimeter verfehlt.
Hauser verharrte eine ganze Weile. Er musterte jeden Quadratzentimeter des ihn umgebenden Bodens, jeden Baum und jeden Ast. Als er befriedigt feststellte, dass hier keine weitere Falle auf ihn lauerte, beugte er sich vor, um den Pfeil aus der Khakihose zu ziehen. Dann hielt er erneut inne - gerade noch rechtzeitig. Aus dem Pfeilkörper ragten zwei fast unsichtbare Stacheln hervor. Auch sie waren nass vom Gift. Bei dem Versuch, sie zu packen, hätten sie sich in seine Finger gebohrt.
Hauser griff sich einen Zweig und schnippte den Pfeil von seinem Hosenbein.
Äußerst gerissen. Drei Fallen in einer. Einfach und effek-tiv. Das hatte er zweifellos dem Indianer zu verdanken.
Hauser bewegte sich nun etwas langsamer voran - und mit mehr Respekt.
75
Tom trabte durch den Wald. Tempo war ihm nun wichtiger als Stille, aber er machte einen Umweg, um Hauser nicht in die Hände zu laufen. Sein Weg führte ihn durch ein Labyrinth von unter dichten Schichten von Kletterpflanzen be-grabenen Tempelruinen. Er hatte keine Lampe, deswegen musste er sich manchmal durch finstere Gänge tasten oder unter umgefallenen Steinen hindurchkriechen.
Bald erreichte er den östlichen Rand des Plateaus. Er legte eine Pause ein, um wieder zu Atem zu kommen, dann pirschte er zum Klippenrand und schaute in die Tiefe, um sich zu orientieren. Seinem Gefühl nach musste die Totenstadt irgendwo südlich liegen, also wandte er sich nach rechts und folgte dem Pfad am Rand der Klippen entlang.
Zehn Minuten später erkannte er die Terrasse sowie die über der Totenstadt aufragende Felswand und stieß auf den versteckten Pfad. Er huschte hinab und lauschte an jeder Ecke - für den Fall, dass Hauser noch hier weilte. Aber er war offenbar längst weg. Dann erreichte er die dunkle Öffnung der Grabkammer seines Vaters.
Die Rucksäcke lagen noch dort in einem Stapel auf dem Boden, wo sie sie abgelegt hatten. Tom nahm seine Machete wieder an sich und schob sie in die Scheide. Dann hockte er sich hin, kramte in den Rucksäcken und entnahm ihnen einige Riedgrasbündel sowie eine Schachtel Zündhölzer.
Eines der Bündel steckte er in Brand und betrat dann die Grabkammer.
Sie stank bestialisch. Tom atmete durch die Nase ein und wagte sich weiter nach innen. Es lief ihm vor Grauen kalt über den Rücken, als ihm einfiel, dass sein Vater den letzten Monat hier verbracht hatte. Eingeschlossen in pechschwar-ze Dunkelheit. Das flackernde Licht erhellte eine erhöhte Bestattungsplattform aus dunklem Gestein. Sie war mit Schädeln, Ungeheuern und anderen eigenartigen Motiven verziert. Stapel von mit Stahlbändern verschlossenen Kisten und Kästen umgaben sie. Es war nicht gerade die Gruft von König Tutenchamun. Sie glich eher einem schmutzigen, voll gestopften Lagerhaus.
Tom überwand sein Ekelgefühl und trat einen Schritt heran. Hinter den Kisten hatte sein Vater sich einen primiti-ven Wohnbereich geschaffen. Offenbar hatte er ein wenig Stroh und Staub zusammengekratzt, um eine Art Bett zu formen. An der Rückwand standen mehrere irdene Töpfe, die wohl Nahrung und Wasser enthielten. Modriger Gestank stieg aus ihnen auf. Ratten sprangen aus den Töpfen und flohen vor dem Licht der Fackel. Tom, dem vor Faszi-nation und Mitleid übel war, lugte in einen Topf hinein und entdeckte einige getrocknete Bananen. Sie wimmelten von glitschigen schwarzen Kakerlaken, die in Panik vor dem Licht davonstoben. In den Wasserkrügen waberten tote Ratten und Mäuse. Vor einer Wand lag ein ganzer Haufen verwesender Ratten. Sein Vater hatte sie allem Anschein nach bei seinem täglichen Konkurrenzkampf um die Nahrung erlegt. Im hinteren Teil der Gruft sah Tom die Augen lebendiger Ratten leuchten, die nur darauf warteten, dass er wieder verschwand.
Was sein Vater während des Wartens auf ihn und seine womöglich nie eintreffenden Brüder in dieser absoluten Schwärze durchlitten hatte ... Es war zu grauenhaft, um es sich vorzustellen. Dass er es ausgehalten und überlebt hatte, ohne die Hoffnung zu verlieren, sagte Tom etwas über ihn, das ihm bisher unbekannt gewesen war.
Er wischte sich übers Gesicht. Er musste den Codex finden. Und dann nichts wie weg.
Da die Transportbehälter noch beschriftet und etikettiert waren, brauchte er nur wenige Minuten, bis er die Kiste vor sich hatte, die den Codex enthielt.
Er zerrte das schwere Ding ans Tageslicht, legte eine Pause ein und genoss die frische Gebirgsluft. Die Kiste wog etwa achtzig Pfund und enthielt außer dem Codex noch andere Bücher. Tom nahm die Schrauben und Flügelmuttern der Stahlbänder in Augenschein; sie hielten die in Fiberglas eingeschlagene Holzkiste zusammen. Die Flügelmuttern saßen knallhart. Er brauchte einen Schraubenschlüssel, um sie zu lösen.
Tom suchte sich einen Stein und versetzte einer der Muttern einen festen Schlag, der sie löste. Dieses Verfahren wiederholte er dann mehrere Male. Wenige Minuten später hatte er alle Flügelmuttern abgeschraubt. Er löste die Stahlbänder. Ein paar gezielte Hiebe ließen die Fiberglashülle brechen. Tom riss sie ab. Ein halbes Dutzend wertvolle Bücher rutschten heraus. Alle waren gewissenhaft in säure-freies Papier eingeschlagen: eine Gutenberg-Bibel, festlich gestaltete Manuskripte, ein Stundenbuch. Er schob alles beiseite, griff in die Kiste hinein, packte den in Rindsleder gebundenen Codex und zog ihn heraus.
Er begutachtete ihn kurz. Ihm fiel ein, dass er früher in einer kleinen Glasvitrine im Wohnzimmer gelegen hatte. Sein Vater hatte sie etwa einmal im Monat aufgeschlossen und dann in dem Buch geblättert. Auf den Seiten befanden sich schöne kleine Zeichnungen von Pflanzen, Blumen und Insekten, die von Schriftzeichen umgeben waren. Tom erinnerte sich, dass er sich diese merkwürdigen Maya-Schriftzeichen angeschaut hatte: Punkte, dicke Striche und lachende Gesichter, alle in einem wirren Knäuel umeinan-der gewickelt. Er hatte nicht mal geahnt, dass es sich um eine Schrift handelte.
Tom leerte einen der herumliegenden Rucksäcke und schob das Buch hinein. Dann hängte er ihn sich über die Schulter und machte sich auf den Rückweg. Er beschloss, nach Südwesten und Hauser möglichst aus dem Weg zu gehen.
Er betrat die Ruinenstadt.
76
Hauser folgte der Fährte nun vorsichtiger. Er war äußerst wachsam und spürte ein Kribbeln der Erregung und Furcht. Dem Indianer war es in einer knappen Viertelstunde gelungen, eine Falle zu basteln. Erstaunlich. Er musste also noch irgendwo hier draußen sein. Zweifellos bereitete er schon den nächsten Hinterhalt vor. Hauser verstand nicht so recht, weshalb der indianische Führer den Broadbents so viel Loyalität entgegenbrachte. Die Fähigkeiten der Einheimischen, im Urwald zu überleben, Hinterhalte zu legen oder Gegner auszuschalten, unterschätzte er jedoch nie. Der Vietcong hatte ihm Respekt eingeflößt. Deswegen ließ er nun bei der Verfolgung der Fährte der Broadbents keine Vorsichtsmaßnahme aus, um sich vor einem eventu-ellen Hinterhalt zu wappnen: Er ging ständig im Zickzack und hielt alle paar Minuten an, um den Boden und das Unterholz abzusuchen. Er hob sogar witternd die Nase in den Wind, um nach menschlichen Ausdünstungen zu fahnden.
Kein in einem Baum hockender Indianer würde ihn mit seinem Giftpfeil überraschen.
Die Broadbents waren zur Plateaumitte unterwegs, wo der Urwald am dichtesten war. Zweifellos wollten sie sich dort irgendwo verkriechen und den Einbruch der Dunkelheit abwarten. Doch das würde ihnen keinen Erfolg bringen: Hauser war im Grunde auf noch keine Fährte gesto-
ßen, der er nicht hätte folgen können - und schon gar nicht der von ein paar panischen Leuten mit einem stark blutenden Verletzten. Außerdem hatten er und seine Männer das gesamte Plateau längst gründlich erkundet.
Der vor ihm liegende Regenwald war von einem wilden Gewoge aus Kletterpflanzen und Lianen überwuchert. Auf den ersten Blick wirkte er undurchdringlich. Hauser ging vorsichtig näher heran, wobei er den Boden im Auge behielt. Er sah die Fährten kleinerer Tiere, die in alle möglichen Richtungen verliefen - hauptsächlich Spuren von Coatis. Die dicken Wassertropfen an Blättern, Ranken und Blüten fielen schon bei der geringsten Erschütterung zu Boden.