Wenn sie verschossen waren, musste sie den Verschluss zurückziehen und die fünf nächsten Patronen mit der Hand einlegen. Ein langwieriges Verfahren. Außerdem verfügte sie ohnehin nur über zehn Schuss.
Was sie auch tat: Es musste mit fünf Schüssen zu schaffen sein.
In Sally flammte ein Gefühl von Panik auf. Sie musste sich etwas ausdenken. Sie brauchte einen Plan, der ein Resultat erbrachte, das sie alle überleben ließ. Hauser stolzierte mit einem Gewehr auf ihre Freunde zu. Er hatte eindeutig die Absicht, sie zu töten. Ja, sie würde ihn töten müssen - aber dann war auch für die Broadbents alles aus.
Ihr Kopf war ein Chaos. Sie durfte keinen Fehler machen.
Eine zweite Chance gab es nicht. Es musste beim ersten Mal klappen. Sally ging jede Option durch, die ihr in den Sinn kam, aber alle endeten auf gleiche Weise: mit dem Tod der Broadbents. Ihre Hand zitterte. Hausers Gestalt ruckte im Zielfernrohr. Wenn ich ihn töte, sterben auch sie. Töte ich ihn nicht, sterben sie trotzdem.
Sally schaute hilflos zu, als Hauser mit der Waffe auf sie zielte. Er lächelte. Er wirkte wie ein Mensch, dem ein Vergnügen bevorstand.
79
Tom musterte den über die Brücke kommenden Hauser.
Sein Gesicht zeigte ein arrogantes, triumphierendes Lächeln. Er blieb etwa dreißig Meter vor ihnen stehen und richtete die Mündung seiner Waffe auf Tom. »Rucksack abnehmen und hinlegen.«
Tom nahm den Rucksack vorsichtig vom Rücken, doch statt ihn hinzulegen, hielt er ihn an einem Riemen über den Abgrund. »Da ist der Codex drin.«
Hauser feuerte einen Schuss ab, der etwa dreißig Zentimeter vor Tom ein Stück Bambus aus dem Geländer riss.
»Hinlegen.«
Tom rührte sich nicht. Der Rucksack baumelte weiterhin über dem Abgrund. »Wenn Sie mich erschießen, fällt er runter. «
Stille. Hauser richtete die Mündung seiner Waffe auf Maxwell Broadbent. »Na schön. Legen Sie ihn hin, sonst stirbt Ihr Daddy. Das war die letzte Warnung.«
»Soll er mich doch umbringen«, knurrte Broadbent.
»Und nach dem Daddy sind Ihre beiden Brüder dran. Seien Sie nicht blöd, legen Sie das Ding hin.«
Nach einem kurzen Moment legte Tom den Rucksack hin.
Er hatte keine Wahl.
»Jetzt die Machete.«
Tom zog die Machete aus der Scheide und ließ sie fallen.
»Na bitte«, sagte Hauser. Seine Miene entspannte sich. Er schaute Toms Vater an. »Dass wir uns noch mal wiedersehen, Max ...«
Der alte Mann, der sich auf seine Söhne stützte, um nicht zu fallen, hob den Kopf. »Du hast mit mir eine Rechnung zu begleichen. Lass die Jungs gehen.«
Das Lächeln auf Hausers Gesicht sah nun frostiger aus.
»Ganz im Gegenteil. Du wirst das Vergnügen haben, sie vor dir sterben zu sehen.«
Broadbents Kopf fuhr ein Stück herum. Tom hielt sich fest. Die Brücke schwankte leicht. Kalte Dunstschwaden waberten herauf. Borabay machte einen Schritt nach vorn, doch Philip hielt ihn auf.
»Ja, nun, wer ist der Erste? Der Indianer? Nein, den nehmen wir später. Wir machen es nach dem Alter. Philip? Gehen Sie von den anderen weg, damit ich euch nicht alle auf einmal umbringen muss.«
Philip trat nach einem kurzen Zögern beiseite. Vernon streckte eine Hand nach ihm aus, erwischte seinen Arm und wollte ihn zurückhalten. Philip schüttelte ihn ab und machte noch einen Schritt.
»Du wirst in der Hölle schmoren, Hauser!«, brüllte Maxwell Broadbent.
Hauser lächelte höflich und hob die Mündung des Gewehrs. Tom wandte seinen Blick ab.
80
Doch der Schuss fiel nicht. Tom schaute auf. Irgendetwas hinter ihnen hatte Hausers Aufmerksamkeit abgelenkt.
Tom drehte sich um und sah einen schwarzen Blitz: Ein Tier hüpfte über ein Brückentau auf sie zu. Ein Äffchen, das mit erhobenem Schweif dahinflitzte: Knilch.
Als Knilch mit einem Freudenschrei in Toms Arme sprang, sah er, dass ein Kanister an seinen Bauch gebunden war. Das Ding war fast so groß wie Kniich selbst. Es war der Alubehälter mit dem Flüssiggas für den Campingkocher. Auf seine Umhüllung war etwas gekritzelt: ICH KANN DAS DING TREFFEN. S.
Was hat das zu bedeuten, verdammt? Was hatte Sally vor?
Hauser hob sein Schießeisen. »Okay, beruhigt euch. Keiner rührt sich. Zeigen Sie mir, was der Affe Ihnen da gerade gebracht hat. Und zwar langsam.«
Tom wurde schlagartig klar, was Sally vorhatte. Er nahm Knilch den Kanister ab.
»Strecken Sie den Arm aus. Zeigen Sie mir das Ding.«
Tom hielt ihm den Kanister hin. »Das ist ein Liter Flüssiggas.«
»Werfen Sie das Ding über die Brücke.«
»Zu uns gehört eine Scharfschützin«, sagte Tom mit ruhiger Stimme. »Ihre Kanone zielt genau jetzt auf den Behälter.
Wie Sie wissen, ist der Inhalt höchst feuergefährlich.«
Hausers Miene verriet weder die Spur eines Gefühls noch eine andere Reaktion. Er hob bloß sein Gewehr.
»Wenn sie den Kanister trifft, geht die Brücke in Flammen auf, Hauser. Dann sind Sie abgeschnitten und sitzen für immer in der Weißen Stadt fest.«
Zehn elektrisierende Sekunden vergingen. Dann erwiderte Hauser: »Wenn die Brücke brennt, sterben Sie auch.«
»Sie wollen uns doch sowieso umbringen.«
»Sie bluffen doch nur«, erwiderte Hauser.
Tom antwortete nicht. Die Sekunden gingen dahin. Hausers Miene war undurchdringlich.
»Vielleicht durchlöchert sie ja auch Sie, Hauser.«
Hauser hob sein Gewehr. Im gleichen Moment traf eine Kugel mit einem Pitsch einen halben Meter vor seinen Füßen die Bambusbrücke und ließ ein paar Splitter in sein Gesicht spritzen. Der Knall war einen Tick später zu hören. Er rollte über den Abgrund hinweg.
Hauser senkte eilig den Lauf seines Gewehrs.
»Nun, da wir festgestellt haben, dass ich keinen Scheiß rede, können Sie Ihren Soldaten sagen, sie sollen uns passieren lassen.«
»Und dann?«, fragte Hauser.
»Dann können Sie die Brücke, die Gruft und den Codex haben. Wir wollen nur unser Leben.«
Hauser hängte sich seine Waffe über die Schulter. »Glück-wunsch«, sagte er. »Sie haben gewonnen.«
Tom band mit langsamen Bewegungen ein loses Stück Brückenschnur um den Gasbehälter und befestigte ihn an einem der Haupttaue.
»Sagen Sie Ihren Männern, sie sollen uns ziehen lassen.
Wenn uns irgendetwas zustößt, schießt unsere Scharfschützin auf den Behälter. Dann geht Ihre kostbare Brücke in Flammen auf. Haben Sie verstanden?«
Hauser nickte.
»Ich hab Ihren Befehl noch nicht gehört, Hauser.«
Hauser legte die Hände an den Mund: »Leute!«, schrie er auf Spanisch. »Lasst sie gehen! Tut ihnen nichts, wenn sie kommen! Ich lasse sie frei!«
Schweigen.
»Bestätigt den Befehl!«, rief Hauser.
»Si, Señor«, kam die Antwort.
Die Broadbents nahmen ihren Weg auf die andere Seite wieder auf.
81
Hauser stand in der Mitte der Brücke. Sein Verstand hatte die Tatsache akzeptiert, dass die Scharfschützin - es handelte sich zweifellos um die blonde Frau, die Tom Broadbent mitgebracht hatte - ihn im Fadenkreuz hatte. Eine unbrauchbare alte Jagdflinte, hatte der Soldat gesagt. Ja, klar. Sie hatte ihm aus einer Entfernung von fast dreihundertfünfzig Metern eine Kugel genau vor die Füße geknallt. Dass sie ihn jetzt im Zielfernrohr sah, war ein unerfreuliches, aber auch eigenartig aufregendes Gefühl. Es jagte Hauser Angst ein, aber es erregte ihn auch.