»Danke, Vater.«
»Außerdem gebe ich euch einen Sack voller Edelsteine mit, damit ihr die Erbschaftssteuer bezahlen könnt.«
»In Ordnung.«
»Jetzt bist du dran, Tom. Wie lautet deine Wahl?«
Tom schaute Sally an. »Wir hätten gern den Codex.«
Broadbent nickte. »Eine interessante Wahl. Er gehört euch. Und jetzt bist du dran, Borabay. Was für eine geheimnisvolle Sache möchtest du haben, die sich nicht in der Höhle befindet?«
Borabay trat an sein Lager und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
Der alte Mann nickte. »Ausgezeichnet. Betrachte es als erledigt.« Er schwenkte den Kugelschreiber. Sein Gesicht war von Schweißperlen bedeckt. Sein Atem ging schnell und flach. Tom erkannte, dass er nicht mehr lange bei klarem Verstand sein würde. Er wusste, wie ein Tod durch Blutvergiftung aussah.
»Und jetzt«, sagte Maxwell Broadbent, »lasst mich zehn Minuten allein, damit ich meinen letzten Willen aufschreiben kann. Dann rufen wir Zeugen hinzu und bringen die Sache zu Ende.«
85
Tom stand mit seinen Brüdern und Sally in einem kathedralenartigen Hain und beobachtete die lange Prozession, die soeben über den gewundenen Weg zu der über dem Dorf ins Kalkgestein geschlagenen Gruft marschierte. Der Anblick war beeindruckend. Der verstorbene Maxwell Broadbent nahm die Spitze der Prozession ein - er wurde von vier Kriegern auf einer Bahre getragen. Man hatte ihn nach einem uralten Maya-Verfahren einbalsamiert. Während der Trauerfeier hatte der neue Tara-Häuptling ihn in El Dorado verwandelt, den Vergoldeten aus der Indianerlegende. Genau so hatten die Mayas ihre Herrscher bestattet. Er hatte den Toten mit Honig bestrichen und anschließend mit Goldstaub besprüht. Er hatte ihn völlig eingehüllt, um ihm die unsterbliche Gestalt zu verleihen, die er im Jenseits annehmen würde.
Der Bahre folgte eine lange Prozession von Indianern; sie trugen die Grabbeigaben: Körbe mit Trockenobst, Gemüse und Nüssen sowie Krüge mit Wasser und Öl. Dann kamen zahllose traditionelle Maya-Artefakte: Jadestatuen, bemalte Gefäße, Blattgoldteller, Krüge, Waffen, Köcher voller Pfeile, Netze, Speere - alles, was Maxwell Broadbent im jenseitigen Leben vielleicht gebrauchen könnte.
Schließlich hinkte ein Indianer mit einem Picasso-Gemälde um die Wegbiegung. Es stellte eine nackte gehörnte Drei-äugige mit einem viereckigen Kopf dar. Ihm folgte, von zwei schwitzenden Indianern getragen, der schwergewichtige Pontormo mit der Verkündigungsszene.
Dann kamen Bronzinos Porträt der Bia de Medici, zwei römische Statuen, noch ein paar Picassos, ein Braque, zwei Modiglianis, ein Cezanne und weitere Statuen: Grabbeigaben aus dem 20. Jahrhundert. Die bizarre Prozession schritt den Hügel hinauf und verschwand dann im Hain.
Ganz am Ende kam - wenn man es denn so bezeichnen wollte - das Orchester: eine Gruppe von Männern, die Flöte spielten, lange Holztrompeten bliesen und Stöcke aneinander hauten. Den Abschluss bildete ein Junge, der mit aller Kraft auf eine schäbige, vermutlich aus den USA stammende Basstrommel schlug.
Tom empfand eine starke Mischung aus Trauer und Läu-terung. Eine Ära war zu Ende gegangen. Sein Vater war tot.
Er musste sich nun endgültig von seiner Kindheit verab-schieden. Es wurden Gegenstände an ihm vorbeigetragen, die er kannte und gern hatte; Gegenstände, mit denen er aufgewachsen war. Auch sein Vater hatte sie geliebt. Als die Prozession die Gruft erreichte, wurde alles - die Menschen wie die Grabbeigaben - von der Dunkelheit verschluckt. Dann kehrten die Leute blinzelnd und mit leeren Händen ins Freie zurück. Die Sammlung seines Vaters würde bis zu dem Tag, an dem er und seine Brüder wiederkämen, um ihr Eigentum zu beanspruchen, sicher, trok-ken verwahrt und beschützt sein. Die Maya-Schätze würden natürlich für immer in der Kammer bleiben, damit Maxwell Broadbent im Jenseits ein schönes und glückliches Leben führen konnte. Doch die aus den westlichen Ländern stammenden Schätze gehörten ihnen und wurden vom Volk der Tara bewacht. Die Beisetzung suchte ihresglei-chen. So waren bisher nur Maya-Herrscher bestattet worden, und selbst das war tausend Jahre her.
Drei Tage nach der Unterzeichnung des Testaments war Maxwell Broadbent gestorben. Ihm war nur noch ein Tag geblieben, dann hatte sein Geist sich verwirrt, und er war ins Koma gefallen und verschieden. Toms Ansicht nach gab es zwar grundsätzlich keinen schönen Tod, doch der seines Vaters war irgendwie würdevoll gewesen, falls man dieses Wort überhaupt verwenden wollte. Er selbst würde sich eher an den letzten klaren Tag seines Vaters als an seinen Tod erinnern.
Sie waren alle bei ihm gewesen. Sie hatten nicht viel geredet, und wenn sie überhaupt etwas gesagt hatten, dann war es um Kleinigkeiten gegangen: um irgendwelche unwichtigen Begebenheiten, vergessene Orte, lustige Ereignisse und Menschen, die längst nicht mehr lebten. Trotzdem war dieser Tag der Plaudereien für sie wertvoller gewesen als all die Jahrzehnte wichtiger Gespräche über vermeintlich Gro-
ßes: die Standpauken, die väterlichen Ermahnungen, die Ratschläge, die Philosophiererei und die Tischgespräche.
Nach einem Leben des Aneinandervorbeiredens hatte Maxwell Broadbent sie endlich verstanden und sie ihn. Nur deswegen hatten sie aus reinem Spaß an der Freude so unbeschwert daherreden können. So einfach und doch auch so tiefsinnig war die Sache.
Tom lächelte. Die Bestattung hätte seinem Vater gefallen.
Er hätte diese beeindruckende Prozession durch den Wald gern gesehen: die riesigen dröhnenden Holztrompeten, die Trommelwirbel, die Bambusflöten, die abwechselnd sin-genden und klatschenden Männer und Frauen. Man hatte eine große Kammer in den Fels gehauen und eine neue Totenstadt für das Volk der Tara aus der Taufe gehoben. Die Weiße Stadt war ihnen wegen der abgebrannten Brücke ja nicht mehr zugänglich. Sechs von Hausers Söldnern waren dort zurückgeblieben. In den sechs Wochen, die die Bauar-beiten der neuen Gruft in Anspruch nahmen, hatte es im Dorf täglich neue Nachrichten über die gefangenen Soldaten gegeben: Hin und wieder kamen sie an den Brückenkopf, feuerten ihre Waffen ab und riefen, flehten und drohten. Im Laufe der Tage und Wochen waren aus den sechs Männern vier geworden, dann drei, dann zwei. Jetzt war nur noch einer da, aber er schrie und winkte nicht mehr und gab auch keine Schüsse mehr ab. Er stand nur da, eine kleine, ausgemergelte, schweigende Gestalt, die auf den Tod wartete. Tom hatte die Tara zu überreden versucht, den Mann zu retten. Aber sie hatten sich hart gezeigt: Nur die Götter konnten eine neue Brücke bauen. Wenn sie ihn retten wollten, würden sie es schon tun.
Aber natürlich hatten sie es nicht getan.
Das Dröhnen der Basstrommel lenkte Toms Gedanken wieder auf das gegenwärtige Schauspiel. Nun, da sämtliche Grabbeigaben in der Gruft gestapelt waren, wurde es Zeit, sie zu verschließen. Die Männer und Frauen standen im Wald und sangen eine traurige, beklemmende Melodie, während ein Priester ein Bündel heiliger Kräuter schwenkte, deren Wohlgeruch an ihnen vorbeiwehte. Die Zeremonie endete, als die Sonne den Horizont im Westen berührte.
Dann schlug der Häuptling auf den Holzschlüssel, und als die letzten Sonnenstrahlen schwanden, schloss sich die große Steintür mit einem dumpfen Schlag.
Alles war still.
Als sie zum Dorf zurückschlenderten, sagte Tom: »Schade, dass Vater das nicht gesehen hat.«
Vernon legte einen Arm um ihn. »Er hat's gesehen, Tom.
Da bin ich mir ganz sicher.«
86
Lewis Skiba saß auf der windschiefen Veranda seines Holz-hauses in einem Schaukelstuhl und blickte auf den See hinaus. Die Hügel waren in herbstliche Pracht gehüllt, im dunklen Wasser spiegelte sich das abendliche Himmelszelt.