Berthes Mann versuchte über diesen Sport den Jägern etwas über die Kunst des Lebens beizubringen. Die Lektion bestand darin, Grünschnäbel mit viel Geld und wenig Erfahrung mit auf eine Lichtung zu nehmen. Dort stellte Berthes Mann eine Bierdose auf einen Stein, die er dann aus einem Abstand von fünfzig Metern mit einem Schuß hinwegfegte.
»Ich bin der beste Schütze weit und breit«, sagte er. »Und jetzt bringe ich Ihnen bei, genauso gut zu werden wie ich.«
Er stellte die Dose wieder auf den Stein, ging an seinen Platz zurück, zog ein Tuch aus der Tasche und bat den anderen, ihm die Augen zu verbinden. Dann legte er auf das Ziel an und schoß abermals.
»Habe ich getroffen?« fragte er, indem er die Binde von den Augen nahm.
»Natürlich nicht«, antwortete der Grünschnabel voller Schadenfreude darüber, daß der stolze Führer erniedrigt worden war. »Die Kugel ist meilenweit daran vorbeigegangen.
Ich glaube nicht, daß Sie mir etwas beibringen können.«
»Ich habe Ihnen gerade die wichtigste Lektion Ihres Lebens erteilt«, antwortete dann Berthes Mann. »Immer wenn Sie etwas erreichen wollen, müssen Sie die Augen offenhalten, sich voll konzentrieren und genau wissen, was Sie wollen. Niemand erreicht sein Ziel mit geschlossenen Augen.«
Einmal, als der Alte gerade dabei war, die Dose nach dem ersten Schuß an ihren Platz zurückzustellen, wollte ein Zögling seine Zielsicherheit sofort unter Beweis stellen. Er schoß, bevor Berthes Mann an seine Seite zurückgekehrt war, und traf ihn in den Hals. Er hatte nicht die Zeit gehabt, die ausgezeichnete Lektion über Konzentration und Objektivität zu lernen.
»Ich muß los«, sagte Chantal. »Ich muß vor der Arbeit noch ein paar Dinge erledigen.«
Berthe wünschte ihr einen schönen Tag und folgte ihr mit dem Blick, bis sie sie in der Gasse neben der Kirche verschwinden sah. Die Jahre, die sie vor der Tür gesessen und auf die Berge, die Wolken geschaut und in Gedanken mit ihrem verstorbenen Mann geredet hatte, hatten ihr beigebracht, die Menschen zu
>sehen<. Ihr Wortschatz war beschränkt, oft vermochte sie die vielfältigen Gefühle nicht in Worte zu fassen, die andere in ihr auslösten, und doch >sah< sie die anderen, kannte ihre Gefühle.
Alles hatte mit der Beerdigung ihrer großen und einzigen Liebe begonnen. Weinend hatte sie am Grab gestanden, als neben ihr ein Kind - der Nachbarssohn, der inzwischen erwachsen war und Tausende von Kilometern entfernt lebte - sie fragte, warum sie traurig sei.
Berthe hatte das Kind nicht erschrecken wollen, indem sie über Tod und Abschied sprach. Sie hatte nur gesagt, daß ihr Mann fortgegangen sei und vielleicht lange Zeit nicht nach Bescos zurückkehren werde.
»Ich glaube, Sie irren sich«, hatte der Junge geantwortet.
»Gerade habe ich ihn noch gesehen, wie er sich hinter einem Grab versteckt hat und mit einem Löffel in der Hand lächelte.«
Die Mutter des Jungen hatte die Bemerkung gehört und ihr Kind heftig gescholten. »Kinder sehen immer Sachen«, sagte sie und entschuldigte sich. Wogegen Berthe sofort zu weinen aufhörte und in die angegebene Richtung schaute. Ihr Mann hatte die Manie, seine Suppe nur mit einem bestimmten Löffel zu essen, was sie immer geärgert hatte, denn für sie waren alle Löffel letztlich gleich und faßten die gleiche Menge Suppe. Er hatte jedoch immer auf seinem Löffel bestanden. Berthe hatte niemandem diese Geschichte erzählt, aus Angst, man könnte ihn für verrückt halten.
Der Junge hatte jedoch tatsächlich ihren Mann gesehen. Der Löffel war das Zeichen. Kinder >sahen< Dinge. Sie beschloß auch >sehen< zu lernen, weil sie mit ihm reden, ihn wieder zurückhaben wollte, wenn auch nur als Geist.
Anfangs schloß sie sich in ihrem Haus ein und verließ es selten, hoffte, er würde vor ihr erscheinen. Eines schönen Tages hatte sie eine Vorahnung. Sie sollte zur Haustür gehen und auf die anderen achten. Sie fühlte, daß ihr Mann wollte, daß ihr Leben fröhlicher würde, sie mehr an dem Geschehen draußen teilhatte.
Sie stellte ihren Stuhl vors Haus und betrachtete die Berge. Es waren nur wenige Menschen in den Straßen von Bescos unterwegs, aber am selben Tag noch kam eine Nachbarin aus dem Nachbardorf zurück und erzählte ihr, daß die Marktbeschicker sehr preiswertes Besteck verkauften; zum Beweis zog sie einen Löffel aus der Tasche.
Berthe begriff, daß sie ihren Mann nie wiedersehen würde, er sie aber bleiben hieß, damit sie auf den Ort aufpaßte. Mit der Zeit begann sie zu ihrer Linken eine Veränderung zu spüren und war sicher, daß er dort war, ihr Gesellschaft leistete und sie beschützte, einmal ganz abgesehen davon, daß er ihr Dinge zeigte, die die anderen nicht wahrnahmen, wie zum Beispiel die Formen der Wolken, die auch immer eine Botschaft für sie enthielten. Wohl stimmte es sie traurig, daß die Gestalt sich ihr entzog, sowie sie versuchte, sie genau anzusehen. Doch später merkte sie, daß sie mit ihm reden konnte, indem sie ihre Intuition benutzte, und sie begannen lange Gespräche über alle möglichen Themen zu führen.
Drei Jahre darauf war sie bereits fähig, die Gefühle der Menschen zu >sehen< und die Ratschläge ihres Mannes zu
>hören<, die immer sehr nützlich waren. So wehrte sie sich, als die Versicherung versuchte, ihr die Rente zu kürzen, und zog ihr Geld von der Bank ab, ehe diese in Konkurs ging und mit ihr die mühsam erwirtschafteten Ersparnisse aller Bewohner aus der Umgegend.
An einem Morgen - wann genau, wußte sie schon nicht mehr - hatte er ihr gesagt, daß Bescos zerstört werden könnte. Berthe dachte sofort an ein Erdbeben, das neue Berge aufschütten würde, doch er beruhigte sie, indem er ihr sagte, daß derlei Dinge für die nächsten tausend Jahre nicht vorgesehen wären.
Es sei eine andere Art Zerstörung, die ihm Sorgen bereite, obwohl nicht einmal er Genaueres wisse. Aber er bat sie aufzupassen, dies sei schließlich sein Dorf und der Ort auf der Welt, den er am meisten liebe, auch wenn er ihn allzu früh habe verlassen müssen.
Berthe begann daraufhin, mehr auf die Menschen zu achten, auf die Formen der Wolken, auf die Jäger, die kamen und gingen, doch nichts schien darauf hinzuweisen, daß jemand versuchte, den Ort zu zerstören, der niemandem etwas Böses getan hatte. Aber Berthes Mann ließ nicht locker, hieß sie weiter aufpassen, und sie gehorchte.
Vor drei Tagen hatte sie den Fremden mit einem Dämon nach Bescos kommen sehen, und da wußte sie, daß ihr Warten ein Ende hatte. Heute hatte sie gesehen, daß die junge Frau einen Dämon und einen Engel an ihrer Seite hatte. Berthe brachte sofort beide Ereignisse miteinander in Verbindung, und ihr war klar, daß etwas Merkwürdiges in ihrem Dorf geschah.
Sie lächelte in sich hinein, schaute nach links und blies einen diskreten Kuß hinüber. Sie war keine nutzlose Alte. Sie hatte etwas Wichtiges zu tun: Sie mußte den Ort retten, in dem sie geboren war, obwohl sie nicht genau wußte, wie sie das anstellen sollte.
Chantal ließ die Alte in ihre Gedanken versunken zurück und ging heim. Berthe stand bei den Bewohnern von Bescos in dem Ruf, eine alte Hexe zu sein. Man raunte sich hinter vorgehaltener Hand zu, in dem Jahr, das sie zu Hause eingeschlossen verbracht hatte, hätte sie Schwarze Magie gelernt. Als Chantal einmal gefragt hatte, wer ihr das beigebracht habe, erzählten ihr die Leute, daß der Dämon persönlich ihr nachts erschienen sei. Andere behaupteten, daß sie einen keltischen Priester anrufe und dabei Worte benutze, die ihre Eltern ihr beigebracht hatten. Aber niemand kümmerte sich darum. Berthe war harmlos und hatte immer schöne Geschichten zu erzählen.
Sie hatten recht, auch wenn es immer dieselben Geschichten waren. Und plötzlich blieb Chantal, die Hand schon auf dem Türknauf, stehen. Sie hatte die Geschichte vom Tode ihres Mannes schon häufig gehört, aber erst jetzt wurde ihr klar, daß sie eine wichtige Lektion für sie enthielt. Sie erinnerte sich an ihren Spaziergang im Wald, an ihren blinden Haß auf alle und jeden, als ihr nichts mehr heilig war: Bescos nicht, seine Bewohner und deren Kinder nicht - nicht einmal sie selbst.