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Aber das eigentliche Ziel war nur einer: der Fremde. Sich konzentrieren, schießen, die Beute erlegen. Dafür brauchte sie einen Plan; es wäre dumm, heute abend etwas zu sagen und die Situation aus dem Ruder laufen zu lassen. Lieber schob sie ihren Bericht über ihre Begegnung mit dem Fremden noch einen Tag auf - wenn sie den Bewohnern von Bescos überhaupt etwas darüber sagen würde.

Am Abend, als sie das Geld für die Runde kassierte, die der Fremde immer ausgab, steckte dieser ihr heimlich einen Zettel zu. Sie schob ihn wie beiläufig in die Tasche, obwohl sie bemerkte, daß der Fremde sie fragend ansah. Das Spiel schien mit umgekehrten Vorzeichen zu laufen: Sie hatte die Lage unter Kontrolle, wählte sowohl Ort als auch Stunde des Duells. So machten es die erfolgreichen Jäger: Sie gaben stets die Bedingungen vor, damit die Beute zu ihnen kam.

Erst als sie in ihr Zimmer zurückgekehrt war, diesmal mit dem merkwürdigen Gefühl, daß sie in dieser Nacht sehr gut schlafen würde, faltete sie den Zettel auseinander: Der Mann bat sie, ihn an der Stelle zu treffen, an der sie sich kennengelernt hatten.

Dann schrieb er noch, er wolle lieber allein mit ihr reden. Aber sie könnten auch vor aller Augen reden, wenn sie es wolle.

Sie merkte die versteckte Drohung durchaus, war aber indirekt froh darüber, weil es ihr zeigte, daß er langsam die Kontrolle verlor, was gefährliche Männer und Frauen nie tun. Ahab, der große Friedensstifter von Bescos, hatte immer gesagt: »Es gibt zwei Arten von Dummköpfen - diejenigen, die etwas nicht tun, weil sie bedroht werden, und diejenigen, die meinen, etwas tun zu müssen, weil sie bedroht werden.«

Sie zerriß den Zettel in kleine Schnipsel, warf sie in die Toilette und betätigte die Wasserspülung. Anschließend nahm sie ein heißes Bad und schlüpfte fröhlich unter die Decke. Sie hatte genau das erreicht, was sie wollte: den Fremden wiedersehen, um unter vier Augen mit ihm zu reden. Wenn sie ihn besiegen wollte, mußte sie ihn besser kennenlernen.

Sie fiel fast augenblicklich in einen tiefen, erholsamen, entspannenden Schlaf. Sie hatte eine Nacht mit dem Guten, eine Nacht mit dem Guten und dem Bösen verbracht und eine Nacht mit dem Bösen. Keiner der Kontrahenten hatte sie zu einem Ergebnis geführt, aber sie lebten in ihrer Seele weiter und kämpften nun untereinander, bis sich zeigen würde, wer der Stärkere war.

Als der Fremde am Treffpunkt erschien, war Chantal naß bis auf die Knochen, denn es regnete in Strömen.

»Diesmal werden wir nicht über das Wetter reden«, sagte sie.

»Es regnet, wie Sie sehen. Ich kenne eine Stelle, an der wir uns besser unterhalten können.«

Sie stand auf, griff nach einem länglichen Segeltuchsack.

»Da drin haben Sie ein Gewehr«, sagte der Fremde.

»Ja.«

»Sie wollen mich töten.«

»Ja. Ich weiß zwar nicht, ob ich es schaffen werde, doch den Wunsch habe ich schon. Aber ich habe die Waffe aus einem anderen Grund mitgebracht: Mir könnte der verdammte Wolf begegnen und ich ihm den Garaus machen, was mir in Bescos mehr Respekt verschaffen würde. Ich habe ihn gestern heulen hören, doch geglaubt hat's mir keiner.«

»Was ist der verfluchte Wolf?«

Sie zögerte und überlegte, ob sie dem Mann, der ihr Feind war, vertrauen konnte oder nicht. Da fiel ihr ein Buch über chinesische Kampfkunst ein - sie las immer alles, was die Gäste im Hotel vergaßen, worum auch immer es ging, denn sie mochte kein Geld für Bücher ausgeben. Dort hatte es geheißen, daß die beste Art, seinen Gegner zu schwächen, sei, ihn in dem Glauben zu lassen, man stünde auf seiner Seite.

Während sie durch Wind und Regen gingen, erzählte sie die Geschichte. Vor zwei Jahren war ein Mann aus Bescos, genauer der Dorfschmied, auf einem Spaziergang plötzlich einem Wolf mit Jungen begegnet. Vor Schreck hatte der Mann einen Ast abgebrochen und damit so lange auf das Tier eingehauen, bis das Holz zerbarst. Normalerweise wäre ein Wolf geflüchtet, aber da er seine Jungen dabeihatte, griff er den Mann an und biß ihn ins Bein. Dem Schmied, der von Berufs wegen sehr stark war, gelang es, das Tier so heftig zu schlagen, daß es zurückwich. Daraufhin floh der Wolf mit seinen Jungen in den Wald und wurde nie mehr gesehen. Alle wußten, daß er einen weißen Fleck am linken Ohr hatte.

»Warum verdammt?«

»Die Tiere, auch die wildesten, greifen normalerweise nie an, außer in Ausnahmefällen wie diesem, wenn sie ihre Jungen beschützen. Wenn sie allerdings angreifen und menschliches Blut schmecken, werden sie gefährlich. Sie wollen immer mehr, und aus wilden Tieren werden regelrechte Mörder. Alle meinen, daß dieser Wolf eines Tages wieder angreifen wird.«

>Das ist meine Geschichte<, dachte der Fremde.

Chantal ging, so schnell sie konnte, denn sie war jünger und besser in Form und wollte den psychologischen Vorteil ausnutzen, um den Mann, der sie begleitete, zu ermüden und zu erniedrigen. Es gelang ihm jedoch, mit ihr Schritt zu halten.

Obwohl er etwas schnaufte, bat er sie zu keinem Zeitpunkt, langsamer zu gehen.

Sie gelangten zu einem kleinen, gut getarnten grünen Plastikzelt, das die Jäger als Unterstand benutzten. Sie setzten sich hinein und rieben ihre eisigen Hände und hauchten hinein.

»Was wollen Sie?« fragte Chantal. »Warum haben Sie mir den Zettel zugesteckt?«

»Ich werde Ihnen ein Rätsel zu lösen geben: Welcher Tag von allen Tagen unseres Lebens kommt nie?«

Er bekam keine Antwort.

»Das Morgen«, sagte der Fremde. »Mir scheint, Sie schieben das Morgen immer wieder auf und damit auch das, worum ich Sie gebeten habe. Heute beginnt das Wochenende. Wenn Sie nicht damit anfangen, tu ich's selber.«

Chantal verließ den Unterstand, blieb in sicherem Abstand stehen, knöpfte den Segeltuchsack auf und holte das Gewehr heraus. Der Fremde schien nicht darauf zu achten.

»Sie waren beim Gold«, fuhr er fort. »Sollte ich einmal ein Buch über Ihre Erfahrung schreiben, glauben Sie nicht, daß die meisten Leser - die sich mit allerlei Schwierigkeiten herumschlagen müssen, die vom Leben und ihren Mitmenschen gebeutelt werden und hart dafür kämpfen müssen, ihre Kinder ernähren und in die Schule schicken zu können -, nun, glauben Sie nicht, daß jeder, der um Ihren Konflikt wüßte, Ihnen die Daumen drücken würde, daß Sie mit dem Goldbarren verschwinden können?«

»Ich weiß nicht«, gab Chantal zurück und schob eine Patrone in den Gewehrlauf.

»Ich auch nicht. Aber genau das ist die Antwort, die ich gern hätte.«

Die zweite Patrone wurde in die Waffe gelegt.

»Sie wollen mich jetzt töten, nachdem Sie versucht haben, mich mit dieser Geschichte von dem Wolf, hinter dem Sie her sind, in Sicherheit zu wiegen. Sei's drum, denn indirekt ist damit meine Frage beantwortet: Die Menschen sind im Grunde schlecht, eine einfache Kellnerin aus einem Provinznest ist fähig, für Geld ein Verbrechen zu begehen. Ich werde sterben, aber ich kenne nun die Antwort und werde zufrieden sterben.«

»Hier!« Sie reichte dem Fremden die Waffe. »Nehmen Sie!

Niemand weiß, was ich weiß. Alle Angaben im Hotelregister sind falsch. Sie können abreisen, wann und wohin Sie wollen.

Man braucht nicht gut zielen zu können: Sie brauchen die Waffe nur auf mich zu richten und den Hahn zu ziehen. Die Patrone besteht aus kleinen Bleistücken, die sich, sobald sie das Rohr verlassen haben, konusförmig ausbreiten. Man kann damit Vögel und Menschen töten. Sie können sogar wegschauen, wenn Sie nicht sehen wollen, wie mein Körper zerfetzt wird.«

Der Mann legte den Finger an den Abzug, zielte auf sie, und zu ihrer Überraschung sah Chantal, daß er die Waffe korrekt hielt, wie ein Profi. Sie standen eine geraume Weile so, und sie wußte, daß ein einfaches Abrutschen oder ein von einem unvermittelt auftauchenden Tier verursachter Schreck dazu führen konnte, daß sich der Finger bewegte und die Waffe losging. In diesem Augenblick wurde ihr bewußt, wie kindisch ihre Geste war, daß sie ihn nur provozierte, damit er tat, was sie sich selbst anzutun nicht imstande war. Der Fremde hielt die Waffe weiterhin auf sie gerichtet, seine Augen blinzelten nicht, seine Hände zitterten nicht. Jetzt war es womöglich zu spät - zumal er inzwischen vielleicht auch Lust hatte, die junge Frau abzuknallen, die ihn so herausforderte.