Chantal wollte ihn gerade bitten, ihr zu verzeihen, da senkte der Fremde, noch bevor sie etwas gesagt hatte, die Waffe.
»Ich kann Ihre Angst fast mit Händen greifen«, sagte er und gab Chantal die Waffe zurück. »Ich rieche den Angstschweiß, obwohl der Regen ihn überlagert. Ich höre Ihr Herz bis zum Hals schlagen, obwohl der Wind an den Bäumen rüttelt und einen Höllenlärm veranstaltet.«
»Ich werde tun, worum Sie mich gestern abend gebeten haben«, sagte Chantal, die sich ertappt fühlte und so tat, als hätte sie nicht gehört, was der Fremde gerade gesagt hatte.
»Letztlich sind Sie nach Bescos gekommen, weil Sie mehr über Ihre eigene Natur erfahren wollen: ob Sie gut sind oder schlecht. Eines habe ich Ihnen gerade gezeigt: Sie hätten abdrücken können und haben es nicht getan. Wissen Sie, warum? Weil Sie ein Feigling sind. Sie benutzen die anderen, um Ihre eigenen Konflikte zu lösen, wozu Sie sich selbst nicht entschließen können.«
»Ein deutscher Philosoph hat einmal sinngemäß gesagt:
>Selbst Gott hat eine Hölle: Es ist seine Liebe zu den Menschen.< Nein, ich bin kein Feigling. Ich habe sehr viel schlimmere Waffen als diese abgedrückt, oder besser gesagt, ich habe viel bessere Waffen als diese hergestellt und sie in alle Welt exportiert. Alles ganz legal und von der Regierung genehmigt, mit Exportstempeln, Ausfuhrsteuer und dem ganzen Brimborium. Ich habe die Frau geheiratet, die ich liebte, zwei wunderschöne Töchter mit ihr gehabt, und ich habe nie einen einzigen Centavo aus meinem Unternehmen abgezweigt und immer nur das verlangt, was mir zustand.
Anders als Sie, die sich vom Schicksal verfolgt glaubt, war ich immer ein Mann, der gehandelt und gegen die vielen Schwierigkeiten gekämpft hat, die sich ihm in den Weg stellten.
Ein paar Schlachten habe ich verloren, andere gewonnen und gelernt, daß Siege wie Niederlagen zum Leben eines jeden gehören - außer zum Leben der Feiglinge, wie Sie sagen, da diese weder verlieren noch gewinnen.
Ich habe viel gelesen. Bin zur Kirche gegangen. Habe Gott gefürchtet und seine Gebote befolgt. Ich war der gutbezahlte Direktor einer riesigen Firma. Mit den Kommissionen, die ich für jedes zustande gekommene Geschäft erhielt, hätte ich nicht nur meiner Frau und meinen Töchtern, sondern auch künftigen Enkeln und Urenkeln ein feudales Leben bieten können, denn der Waffenhandel gehört zu der Wirtschaftsbranche, in der am meisten Geld umgesetzt wird. Da ich wußte, was jedes Teil kostete, das ich verkaufte, überwachte ich persönlich die Geschäfte. Dabei kamen verschiedene Unregelmäßigkeiten zutage, ich mußte Leute hinauswerfen, Transaktionen unterbinden. Meine Waffen wurden zur Aufrechterhaltung der Ordnung gemacht, denn ich dachte, nur sie vermöchten Fortschritt und Fortbestand der Welt zu sichern.«
Der Fremde kam näher und packte Chantal bei den Schultern.
Sie sollte ihm in die Augen sehen und erkennen, daß er die Wahrheit sagte.
»Vielleicht meinen Sie, daß Waffenhersteller zum Schlimmsten gehören, was es auf der Welt gibt. Vielleicht haben Sie recht.
Tatsache ist, daß der Mensch, seit er in den Höhlen lebte, Waffen brauchte, anfangs, um Tiere zu töten, später, um die Macht über die anderen zu erringen. Die Welt kann ohne Ackerbau, ohne Viehzucht, ohne Religion, ohne Musik existieren - aber nie ohne Waffen.«
Er hob einen Stein vom Boden auf.
»Da haben wir sie: die erste Waffe, die unsere Mutter Natur denen gab, die den prähistorischen Tieren die Stirn bieten mußten. Ein solcher Stein wird einen Mann gerettet haben, und dieser Mann hat nach unzähligen Generationen Sie und mich hervorgebracht. Hätte es jenen Stein nicht gegeben, hätte der fleischfressende Mörder den Mann verschlungen, und Milliarden Menschen wären nicht geboren worden.«
Der Wind frischte auf, der Regen wurde stärker, doch ihre Blicke hielten einander stand. »Und so wie viele Leute die Jäger kritisieren und Bescos sie mit allem Pomp empfängt, weil es von ihnen lebt, so wie Menschen es hassen, einen Stier in der Arena zu sehen, aber zum Schlachter gehen, um Fleisch zu kaufen mit der Entschuldigung, die Tiere hätten einen >würdigen< Tod gefunden, so kritisieren viele die Waffenhersteller, und dennoch wird es sie weiterhin geben, solange es eine einzige Waffe auf Erden gibt. Denn solange es diese eine gibt, muß es eine weitere geben, sonst gerät das Gleichgewicht in Gefahr.«
»Und was hat das mit meinem Dorf zu tun?« fragte Chantal.
»Was hat das mit der Übertretung der Gebote zu tun, mit dem Verbrechen, dem Diebstahl, dem Wesen des Menschen, dem Guten und dem Bösen?«
Die Augen des Fremden verdüsterten sich und blickten plötzlich todtraurig.
»Erinnern Sie sich an das, was ich anfangs sagte: Ich habe immer versucht, meine Geschäfte in Übereinstimmung mit den Gesetzen zu führen, ich hielt mich für das, was man allgemein als ehrbaren Mann bezeichnet. Eines Nachmittags erhielt ich in meinem Büro einen Anruf. Eine Frauenstimme teilte mir sanft, aber emotionslos mit, daß ihre Terroristengruppe meine Frau und meine Töchter entführt habe. Sie wollten Unmengen von dem, was ich ihnen liefern konnte: Waffen. Sie baten mich um Geheimhaltung, sagten, meiner Familie werde nichts geschehen, solange ich ihre Anweisungen befolge.
Die Frau legte auf, nachdem sie angekündigt hatte, sie werde mich in einer halben Stunde wieder anrufen. Ich sollte mich in einer bestimmten Telefonzelle am Bahnhof bereithalten. Sorgen brauchte ich mich auch nicht zu sehr, da meine Familie gut behandelt und in wenigen Stunden wieder freigelassen würde -
ich müsse nur eine E-Mail-Order an eine unserer ausländischen Filialen geben. In Wahrheit war es kein Diebstahl, eher ein illegaler Verkauf, der in dem Unternehmen, in dem ich arbeitete, durchaus unbemerkt durchlaufen konnte.
Als gesetzestreuer Bürger, der glaubt, daß die Gesetze dazu da sind, ihn zu beschützen, alarmierte ich sofort die Polizei. Von Stund an war ich nicht mehr Herr meiner Entscheidungen, sondern wurde zu einem Schwächling degradiert, der außerstande war, seine eigene Familie zu beschützen, und ich wurde von anonymen Stimmen und aufgeregten Telefonaten beherrscht. Als ich mich zur angegebenen Telefonzelle begab, hatte ein wahres Heer von Technikern bereits die Leitung angezapft und mit den modernsten Apparaturen verbunden, um den Anruf sofort zurückverfolgen zu können. Ganze Wagenkolonnen positionierten sich, Helikoptergeschwader und bis zu den Zähnen bewaffnete Männer standen einsatzbereit.
Zwei Regierungen auf zwei Kontinenten hatten bereits vom Geschehenen erfahren und schlössen Verhandlungen mit den Entführern kategorisch aus. Mir blieb nichts weiter, als Befehle zu empfangen, Sätze zu wiederholen, die mir vorgesagt wurden, und mich an die Anweisungen der Spezialisten zu halten.
Der Tag war noch nicht zu Ende, da wurde das Versteck, in dem die Geiseln festgehalten wurden, gestürmt, und die Entführer - zwei junge Männer und eine junge Frau, die offensichtlich überhaupt keine Erfahrung hatten, einfache Wegwerfteile einer mächtigen politischen Organisation - starben, von Kugeln durchsiebt. Aber zuvor hatten sie noch Zeit gefunden, meine Frau und meine Töchter zu exekutieren.
Wenn sogar Gott eine Hölle hat, die seine Liebe zu den Menschen ist, dann hat jeder Mensch seine Hölle in Reichweite, nämlich die Liebe zu seiner Familie.«
Der Mann hielt inne, aus Angst, seine Stimme könnte mehr über seine Gefühle verraten, als ihm lieb war. Sobald er sich gefangen hatte, fuhr er fort.