»Sowohl die Polizei wie auch die Entführer benutzten Waffen, die von meinen Fabriken hergestellt worden waren. Niemand weiß, wie sie in die Hände der Terroristen gelangt sind, und es spielt auch keine Rolle. Sie waren einfach da. Trotz meiner Vorsichtsmaßnahmen und meines Engagements für strenge Produktions- und Verkaufsrichtlinien war meine Familie durch etwas getötet worden, was ich hergestellt und möglicherweise während eines Abendessens in einem dieser sündhaft teuren Restaurants verkauft hatte, bei dem wir uns über das Wetter oder die Weltpolitik unterhalten hatten.«
Erneute Pause. Als er fortfuhr, war es, als spräche ein anderer, völlig Unbeteiligter.
»Ich kenne die Waffe und die Munition sehr gut, mit der meine Angehörigen getötet wurden, und ich weiß auch, wohin geschossen wurde: in die Brust. Das Geschoß macht beim Eintritt eine kleine Öffnung, kleiner als der Durchmesser Ihres kleinen Fingers, Chantal. Wenn es den ersten Knochen erreicht, teilt es sich in vier Teile auf, und jedes Teil schießt in eine andere Richtung, wobei es alles gewaltsam zerstört, worauf es trifft: Nieren, Herz, Leber, Lunge. Jedesmal, wenn es auf Widerstand trifft, etwa auf einen Wirbel, ändert es die Richtung erneut, reißt spitze Bruchstücke und zerfetzte Muskeln mit sich, bis es schließlich wieder hinausgelangt. Jede der vier Austrittsöffnungen ist fast faustgroß, und das Geschoß hat immer noch genug Wucht, um im Raum die Fetzen aus Gewebe, Muskeln, Fleisch und Knochen zu verteilen, die es mitgerissen hat, als es im Körper unterwegs war.
Dies alles in weniger als zwei Sekunden. Zwei Sekunden, um zu sterben, sind keine lange Zeit. Doch man erlebt die Zeit anders. Ich nehme an, daß Sie mich verstehen.«
Chantal nickte.
»Noch vor Ende desselben Jahres habe ich meine Arbeit aufgegeben. Bin überall auf der Erde herumgeirrt, habe meinen Schmerz herausgeweint, mich gefragt, wie es kommt, daß der Mensch zu soviel Bosheit fähig ist. Ich habe das Wichtigste verloren, was ein Mensch besitzt: Vertrauen in seinen Nächsten. Ich habe über die Ironie Gottes geweint und gelacht, der mir auf diese absurde Weise gezeigt hat, daß ich ein Werkzeug des Guten und des Bösen war.
All mein Mitgefühl verschwand allmählich, und heute ist mein Herz kalt und hart. Es ist mir egal, ob ich weiterlebe oder sterbe. Aber vorher muß ich im Namen meiner Frau und meiner Töchter begreifen, was sich während jener Gefangenschaft ereignet hat. Ich kann verstehen, daß man aus Haß oder aus Liebe töten kann, aber ganz ohne Grund, nur wegen der Geschäfte?
Das mag Ihnen naiv vorkommen, denn schließlich bringen sich täglich Leute wegen Geld um, aber das interessiert mich nicht.
Ich denke nur an meine Frau und an meine Töchter. Ich möchte wissen, was im Kopf jener Terroristen vor sich ging. Ich möchte wissen, ob sie irgendwann Mitleid hatten und ihre Geiseln laufenlassen wollten, da dieser Krieg ja nichts mit meiner Familie zu tun hatte. Ich möchte wissen, ob es den Bruchteil einer Sekunde gibt, in dem das Gute und das Böse einander gegenüberstehen und das Gute siegen kann.«
»Warum Bescos? Warum ausgerechnet mein Dorf?«
»Warum ausgerechnet die Waffen meiner Fabrik, wo es doch so viele Waffenfabriken auf der Welt gibt, von denen einige nicht einmal von der Regierung kontrolliert werden? Die Antwort ist einfach: rein zufällig. Ich brauchte einen kleinen Ort, in dem sich alle kennen und einander wohlgesonnen sind. In dem Augenblick, in dem die Bewohner von Bescos von der Belohnung hören, werden das Gute und das Böse einander wieder gegenüberstehen, und das, was damals den Geiseln geschah, sich in Ihrem Dorf wiederholen.
Die Terroristen waren bereits umstellt und verloren. Dennoch haben sie getötet, in Erfüllung eines nutzlosen, leeren Rituals.
Ihr Dorf hat etwas, was ich nicht hatte: die Wahl. Sosehr euch das Geld lockt, so könnt ihr doch zu dem Ergebnis kommen, daß ihr euren Ort retten wollt, und euch dazu durchringen, die Geisel nicht zu exekutieren. Ich will nur eins, nämlich sehen, ob andere Menschen anders gehandelt hätten als diese armen, blutdurstigen jungen Leute.
Wie ich bereits bei unserer ersten Begegnung gesagt habe: Die Geschichte eines Menschen ist die Geschichte der gesamten Menschheit. Wenn es Mitgefühl gibt, werde ich begreifen, daß das Schicksal grausam zu mir war, aber daß es manchmal auch Milde walten läßt. Das wird an meinen Gefühlen nichts ändern, es bringt meine Familie nicht zurück, aber es verscheucht zumindest den Dämon, der mich begleitet und nicht hoffen läßt.«
»Und warum wollen Sie wissen, ob ich fähig bin zu stehlen?«
»Aus demselben Grund. Vielleicht ist Ihr Weltbild ja so, daß Sie zwischen leichten und schweren Verbrechen unterscheiden.
Stimmt's? Ich glaube, daß auch die Terroristen in solchen Kategorien dachten: Sie töteten sozusagen um der guten Sache willen, nicht aus Lust, Liebe, Haß oder für Geld. Wenn Sie den Goldbarren nehmen, werden Sie Ihr Verbrechen erst sich selber und dann mir gegenüber rechtfertigen, und ich werde verstehen, wie die Mörder untereinander das Massaker an meinen Lieben gerechtfertigt haben. Sie werden gemerkt haben, daß ich all diese Jahre zu verstehen versucht habe, was geschehen ist. Ich weiß nicht, ob es mir Frieden bringen wird, aber ich sehe keine Alternative.«
»Wenn ich stehlen würde, würden Sie mich nie wiedersehen.«
Zum ersten Mal in der halben Stunde, die sie miteinander redeten, deutete der Fremde ein Lächeln an.
»Ich habe mit Waffen gearbeitet, vergessen Sie das nicht. Dazu gehören auch Geheimdienste.«
Der Mann bat sie, ihn zum Bach zurückzuführen - er hatte sich verlaufen und wußte den Weg nicht mehr. Chantal nahm das Gewehr (das sie sich unter dem Vorwand von einem Freund geliehen hatte, daß die Jagd sie hoffentlich ablenken würde) und steckte es wieder in den Segeltuchbeutel. Seite an Seite stiegen sie den Berg hinunter.
Sie wechselten kein Wort auf dem Weg. Unten am Bach verabschiedete sich der Fremde:
»Ich verstehe Ihr Zögern, kann aber nicht länger warten. Ich verstehe auch, daß Sie mich besser kennenlernen mußten, um besser gegen sich selbst zu kämpfen: Jetzt kennen Sie mich.
Ich bin ein Mann, der mit einem Dämon im Schlepptau durch die Welt zieht. Um ihn zu verscheuchen oder ihn ein für allemal zu akzeptieren, brauche ich Antworten auf ein paar Fragen.« Die Gabel schlug nachdrücklich gegen das Glas. In der Bar, die an jenem Freitagabend rammelvoll war, wandten sich alle Köpfe in Chantals Richtung.
Sofort schwiegen alle. Noch nie hatte hier eine einfache Serviererin gewagt, sich öffentlich zu Wort zu melden.
>Hoffentlich hat sie etwas Wichtiges zu sagen<, dachte die Wirtin. >Sonst wird ihr noch heute gekündigt, egal ob ich ihrer Großmutter versprochen habe, sie niemals im Stich zu lassen.<
»Ich möchte, daß ihr mir zuhört«, begann Chantal. »Ich werde zuerst eine Geschichte erzählen, die alle bereits kennen, außer unserem Gast«, und dabei wies sie auf den Fremden.
»Anschließend werde ich eine Geschichte erzählen, die unser Gast kennt, aber keiner von euch. Wenn ich beide Geschichten erzählt habe, werdet ihr urteilen, ob ich recht daran tat, euren wohlverdienten Feierabend am Ende einer arbeitsreichen Woche zu stören.«
>Ganz schön riskant<, dachte der Priester. >Sie weiß nichts, was wir nicht auch wüßten. Zudem ist sie eine arme Waise, eine junge Frau ohne besondere Stellung im Leben, es wird schwierig sein, die Wirtin davon abzubringen, ihr nicht auf der Stelle zu kündigen.
Nun, so schwierig nun auch wieder nichts spann er seinen Gedanken fort. >Wir alle begehen unsere Sünden, es folgen zwei oder drei Tage der Wut, und anschließend ist alles vergeben und vergessen.< Er kannte im ganzen Dorf niemanden, der Chantals Stelle hätte übernehmen können. Es war eine Arbeit für junge Leute, und es gab keine jungen Leute mehr in Bescos.
»Bescos hat drei Straßen, einen kleinen Platz mit einem Kreuz, ein paar verfallene Häuser, eine Kirche mit einem angrenzenden Friedhof daneben«, begann sie.