»Moment!« rief der Fremde.
Er zog einen Recorder aus der Tasche, stellte ihn auf den Tisch und drückte auf den Aufnahmeknopf. »Mich interessiert alles in bezug auf die Geschichte von Bescos. Ich möchte kein einziges Wort vergessen, deshalb hoffe ich, daß es Sie nicht stört, wenn ich alles aufnehme.«
Chantal wußte nicht, ob sie sich dadurch stören lassen sollte oder nicht, aber sie ließ sich nicht aufhalten. Stundenlang hatte sie gegen ihre Angst angekämpft und schließlich allen Mut zusammengenommen, um anzufangen. Da wollte sie nicht unterbrochen werden.
»Bescos hat drei Straßen, einen kleinen Platz mit einem Kreuz, ein paar verfallene Häuser, ein paar gut erhaltene Häuser, eine Kirche, ein Hotel, einen Briefkasten auf einem Pfahl, eine Kirche mit einem kleinen, angrenzenden Friedhof.«
Zumindest war diesmal die Beschreibung vollständig. Jetzt war sie nicht mehr so aufgeregt.
»Wie wir alle wissen, war Bescos einst eine Räuberhöhle, bis es unserem großen Friedensstifter Ahab nach seiner Bekehrung durch den heiligen Savinus gelang, es zu diesem Dorf zu machen, das heute nur Männer und Frauen guten Willens beherbergt.
Was unser Fremder nicht weiß und ich jetzt erzählen werde, ist, wie Ahab seine Absicht umsetzte. Er hat zu keinem Augenblick versucht, jemanden zu überzeugen, denn er kannte die menschliche Natur. Sie würden Ehrbarkeit mit Schwäche verwechseln, und seine Macht würde in Frage gestellt werden.
Er tat folgendes: Er rief einige Zimmerleute aus einem benachbarten Dorf zusammen, gab ihnen ein Papier mit einer Zeichnung und wies sie an, etwas dort aufzubauen, wo heute das Kreuz steht. Zehn Tage lang hörten die Bewohner des Ortes das Lärmen der Hämmer, sahen sie Männer Holzstücke zersägen, Nut und Federn sägen, Schrauben eindrehen. Am Ende der zehn Tage wurde ein riesiges, von einem Tuch bedecktes Rätsel inmitten des Platzes aufgestellt. Ahab rief die Bewohner von Bescos zusammen, damit sie an der Einweihung des Denkmals teilnahmen.
Feierlich und ohne ein Wort zu sagen, zog er das Tuch weg: Es war ein Galgen. Mit einem Strick, Falltür und allem. Brandneu, mit Bienenwachs versiegelt, damit ihm die Witterung nichts anhaben konnte. Ahab nutzte die Anwesenheit der versammelten Menge dazu, ein paar Gesetze zu verlesen, die die Landwirte schützten, die Viehzucht und Handel förderten, wobei er hinzufügte, daß sie alle in Zukunft eine ordentliche Arbeit finden oder andernfalls in eine andere Stadt ziehen müßten. Das >Denkmal<, das sie gerade enthüllt hatten, erwähnte er mit keinem Wort. Ahab war ein Mann, der nicht an Drohungen glaubte.
Am Ende der Versammlung bildeten sich mehrere Gruppen.
Die meisten fanden, daß Ahab vom Heiligen betrogen worden sei, daß er seinen einstigen Mut verloren und darum den Tod verdient habe. In den folgenden Tagen wurden Pläne geschmiedet, wie sie ihn töten könnten. Aber alle mußten sie ständig an diesem Galgen vorbei und fragten sich: Wozu dient er? Sollen die umkommen, die die neuen Gesetze nicht einhalten? Wer steht auf Ahabs Seite, wer nicht? Haben wir Spitzel in unserer Mitte?
Der Galgen schaute die Menschen an und die Menschen den Galgen. Ganz allmählich machte der anfängliche Mut der Rebellen der Angst Platz. Ahab stand in dem Ruf, in bezug auf seine Entscheidungen unerschütterlich zu sein. Einige zogen fort, andere wagten sich an neue Geschäfte und Gewerbe - weil sie nicht wußten, wohin sie gehen sollten, oder wegen des Schattens, das jenes Todeswerkzeug mitten auf dem Platz warf. Es dauerte nicht lange, da war Bescos befriedet und zu einem großen Handelszentrum an der Grenze geworden, das die beste Wolle exportierte und erstklassigen Weizen anbaute.
Der Galgen stand zehn Jahre dort. Das Holz war widerstandskräftig, nur der Strick mußte immer wieder erneuert werden. Er wurde nie gebraucht. Ahab verlor auch nie ein Wort darüber. Es reichte der Blick darauf, um Mut zu Angst, Vertrauen in Mißtrauen, prahlerisches Gehabe in friedfertiges Gemurmel zu verwandeln. Als das Gesetz in Bescos lange genug geherrscht hatte, ließ Ahab nach zehn Jahren den Galgen kappen und an seiner Stelle aus demselben Holz ein Kreuz errichten.« Chantal machte eine Pause. Die Bar, in der vollkommenes Schweigen herrschte, hörte dem einsamen Beifall des Fremden zu.
»Eine schöne Geschichte«, sagte er. »Ahab kannte die menschliche Natur tatsächlich. Nicht der Wunsch, die Gesetze zu befolgen, führt dazu, daß alle sich so verhalten, wie es die Gesellschaft verlangt, sondern die Angst vor Strafe. Jeder von uns trägt diesen Galgen in sich.«
»Heute reiße ich, weil mich der Fremde darum gebeten hat, das Kreuz heraus und stelle wieder einen Galgen auf den Platz«, fuhr die junge Frau fort.
»Carlos«, sagte jemand. »Er heißt Carlos, und es wäre höflicher, wenn du ihn mit seinem Namen statt mit >der Fremde< anreden würdest.«
»Ich kenne seinen Namen nicht. Alle Angaben im Melderegister sind falsch. Er hat nie mit einer Kreditkarte bezahlt. Wir wissen weder, woher er kommt, noch, wohin er unterwegs ist. Sogar der Anruf am Flughafen kann eine Lüge gewesen sein.«
Alle wandten sich dem Mann zu. Er hielt den Blick starr auf Chantal gerichtet.
»Als er die Wahrheit gesagt hat, habt ihr ihm nicht geglaubt. Er hat tatsächlich in einer Waffenfabrik gearbeitet, viele Abenteuer bestanden, war zugleich liebender Vater und skrupelloser Unterhändler. Ihr, die ihr hier lebt, könnt nicht begreifen, daß das Leben viel komplexer und reicher ist, als ihr glaubt.«
>Komm zur Sache, Mädchen!< dachte die Wirtin. Und Chantal fuhr fort:
»Vor vier Tagen hat er mir zehn sehr große Goldbarren gezeigt.
Damit hätten sämtliche Bewohner von Bescos für die nächsten dreißig Jahre ausgesorgt, durchgreifende Neuerungen in der Stadt wären möglich, auch der Bau eines Spielplatzes für die Kinder, die dann hoffentlich wieder unseren Ort bevölkern würden. Anschließend hat er sie im Wald versteckt, und ich weiß nicht, wo sie jetzt sind.« Alle Köpfe wandten sich wieder dem Fremden zu. Dieses Mal blickte er sie direkt an und nickte.
»Dieses Gold wird Bescos gehören, wenn jemand in den nächsten drei Tagen hier ermordet wird. Stirbt niemand, wird der Fremde fortgehen und seinen Schatz mitnehmen.
Das ist alles. Mehr habe ich nicht zu sagen, der Galgen steht wieder auf seinem Platz. Nur steht er diesmal nicht da, um ein Verbrechen zu verhindern, sondern, damit ein Unschuldiger daran aufgeknüpft wird und durch sein Opfer dem Ort zu Wohlstand verhelfe.«
Die Anwesenden wandten sich ein drittes Mal dem Fremden zu.
Er nickte abermals.
»Diese junge Frau weiß eine Geschichte zu erzählen«, sagte er, schaltete den Recorder aus und steckte ihn in die Tasche.
Chantal drehte sich zur Spüle um und begann Gläser abzuwaschen. Die Zeit schien stillzustehen in Bescos. Keiner sagte etwas.
Man hörte nur das Rauschen des Spülwassers, das Klirren der Gläser auf dem Marmortresen, das Brausen des Windes im kahlen Geäst der Bäume draußen.
Der Bürgermeister brach die Stille.
»Wir werden die Polizei rufen.«
»Tut das«, sagte der Fremde. »Ich habe hier mein Tonband.
Mein einziger Kommentar lautet: >Diese junge Frau weiß eine Geschichte zu erzählen.<«
»Ich möchte Sie bitten, sofort auf Ihr Zimmer zu gehen, Ihre Sachen zu packen und die Stadt zu verlassen«, forderte ihn die Wirtin auf.
»Ich habe eine Woche im voraus bezahlt und werde eine Woche bleiben. Auch wenn Sie die Polizei rufen wollen.«
»Ist Ihnen eigentlich klar, daß auch Sie der Ermordete sein könnten?«
»Selbstverständlich. Und das hat für mich keinerlei Bedeutung.
Wenn ihr es allerdings tätet, hättet ihr ein Verbrechen begangen, ohne dafür die versprochene Belohnung zu erhalten.«
Die Stammgäste verließen einer nach dem anderen die Bar, zuerst die Jüngeren, zuletzt gingen die Ältesten. Es blieben nur Chantal und der Fremde zurück.