Sie nahm ihre Tasche und zog ihre Jacke an. In der Tür drehte sie sich noch einmal um:
»Und Sie wollen ein Mann sein, der gelitten hat und Rache will«, sagte sie. »Ihr Herz ist tot, Ihre Seele ohne Licht. Der Dämon, der Sie begleitet, reibt sich die Hände, weil Sie das Spiel so spielen, wie er es will.«
»Danke, daß Sie meiner Bitte nachgekommen sind. Und dafür, daß Sie die interessante und wahre Geschichte über den Galgen erzählt haben.«
»Im Wald haben Sie gesagt, daß Sie eine Antwort auf bestimmte Fragen haben wollen. Aber nach Ihrem Plan wird nur die Bosheit belohnt. Wenn sich kein Mörder findet, sind nichts als lobende Worte der Lohn des Guten. Sie selber aber wissen doch auch, daß man mit Lob weder hungrige Münder stopft noch kaputte Häuser wieder heil macht. Sie wollen keine Antwort auf eine Frage, sondern nur bestätigt bekommen, was Sie unbedingt glauben wollen: Alle Menschen sind schlecht.«
Der Blick des Fremden verfinsterte sich, und Chantal wußte bereits, was das hieß.
»Wenn alle Menschen schlecht sind, ist die Tragödie, die Sie erlebt haben, gerechtfertigt«, fuhr sie fort. »Dadurch ist der Verlust Ihrer Frau und Ihrer Töchter einfacher zu akzeptieren.
Gibt es aber gute Menschen, dann wird das Leben unerträglich, auch wenn Sie das Gegenteil behaupten. Denn dann hat Sie das Schicksal in eine Falle laufen lassen, die Sie nicht verdient haben. Sie wollen nicht das Licht zurückhaben: Sie wollen die Gewißheit, daß es nichts als Finsternis gibt.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« Die Stimme des Fremden klang gepreßt. »Auf eine gerechtere Wette. Wenn in drei Tagen niemand ermordet wird, erhält der Ort die zehn Goldbarren. Als Lohn für die Integrität seiner Bewohner.«
Der Fremde lachte.
»Und ich meinen Barren zum Lohn dafür, daß ich bei diesem finsteren Spiel mitgemacht habe.«
»Ich bin nicht dumm. Würde ich dem zustimmen, wäre das erste, was Sie täten, hinausgehen und es den anderen erzählen.«
»Das ist ein Risiko. Aber ich werde es nicht tun. Ich schwöre es bei meiner Großmutter und bei meiner ewigen Erlösung.«
»Das reicht nicht. Niemand weiß, ob Gott Schwüre erhört oder ob es überhaupt eine ewige Erlösung gibt.«
»Sie werden erfahren, daß ich es nicht getan habe, weil ich einen neuen Galgen inmitten des Ortes errichten werde. Jeder Trick wird leicht zu durchschauen sein. Außerdem würde mir keiner glauben, wenn ich jetzt hinausginge und allen erzählen würde, was wir eben gesprochen haben. Das wäre so, als käme man mit diesem ganzen Schatz nach Bescos und würde sagen: >Schaut her, das ist für euch, tut, was der Fremde will, oder auch nicht.< Diese Männer und Frauen sind gewohnt, hart zu arbeiten, jeden Centavo im Schweiße ihres Angesichts zu verdienen, und können sich nicht vorstellen, daß ein Schatz vom Himmel fallen könnte.«
Der Fremde zündete eine Zigarette an, trank sein Glas aus und erhob sich vom Tisch. Chantal stand in der offenen Tür, durch die die Kälte hereindrang, und wartete auf seine Antwort.
»Ich würde jeden kleinen Trick bemerken«, sagte er. »Ich bin jemand, der gewohnt ist, mit Menschen umzugehen, genau wie euer Ahab.«
»Da ist mir klar. Das heißt also >ja<.«
Ein weiteres Mal in dieser Nacht nickte er.
»Noch etwas. Sie glauben noch immer, daß der Mensch gut sein kann. Sonst hätten Sie nicht diesen ganzen Hokuspokus veranstaltet, um es sich selbst zu beweisen.« Chantal schloß die Tür und ging schluchzend die menschenleer daliegende Hauptstraße hinunter. Nun war sie gegen ihren Willen doch noch in dieses Spiel verwickelt worden. Hatte aller Bosheit in der Welt zum Trotz gewettet, daß die Menschen gut seien. Niemals würde sie jemandem etwas über die Unterhaltung mit dem Fremden verraten, denn nun wollte auch sie das Ergebnis erfahren.
Sie wußte, daß hinter den Gardinen in ihren dunklen Häusern ganz Bescos lauerte und sie mit ihren Blicken nach Hause begleitete. Sei's drum. Es war zu dunkel, als daß man ihre Tränen sehen konnte.
Der Mann öffnete das Fenster in seinem Zimmer und hoffte, daß die Kälte die Stimme seines Dämons einen Augenblick lang verstummen lassen würde.
Es klappte nicht. Das hatte er schon vorausgesehen, weil der Dämon erregter denn je war wegen all dessen, was die junge Frau gerade gesagt hatte. Zum ersten Mal in vielen Jahren spürte er ihn schwach werden und sich sogar ein Weilchen entfernen, nur um jedoch gleich wiederzukehren, weder erstarkt noch geschwächt, sondern in seiner gewohnten Gestalt. Er wohnte in seiner rechten Gehirnhälfte, die Logik und Verstand regiert, aber er ließ sich nie blicken, so daß der Fremde gezwungen war, ihn sich vorzustellen. Er versuchte ihn auf tausend Arten zu sehen, vom traditionellen Teufel mit Schwanz und Hörnern bis zu einem kleinen blonden Mädchen mit Ringellocken. Am Ende entschied er sich für das Bild eines jungen Mannes von etwa zwanzig Jahren in schwarzer Hose, blauem Hemd und einer grünen, keck auf den schwarzen Haaren thronenden Baskenmütze.
Er hatte die Stimme zum ersten Mal auf einer Insel gehört, auf die er sich zur Erholung zurückgezogen hatte, nachdem er aus der Firma ausgetreten war. Tieftraurig saß er am Strand und versuchte sich verzweifelt einzureden, daß sein Schmerz ein Ende haben würde, als er den schönsten Sonnenuntergang seines Lebens sah. Da überkam ihn die Verzweiflung stärker denn je, und er gelangte an den absoluten Tiefpunkt, denn diese Abenddämmerung hätten seine Frau und seine Töchter zu sehen verdient. Er weinte heftig und spürte, daß er vom Grund dieses Brunnenschachtes nie wieder heraufkommen würde.
In diesem Augenblick hörte er eine sympathische Stimme, die ihn tröstete, er sei nicht allein, alles, was ihm widerfahren sei, habe einen Sinn - und dieser Sinn liege darin zu zeigen, daß das Schicksal eines jeden vorbestimmt sei. Tragödien ereigneten sich immer, und wir könnten nicht verhindern, daß das Böse, das uns erwarte, haargenau eintreffe.
>Das Gute gibt es nicht: Die Tugend ist nur die Kehrseite der Angst<, hatte die Stimme gesagt. >Wenn der Mensch dies begreift, versteht er, daß die Welt nichts als eine Spielerei Gottes ist.<
Gleich darauf begann die Stimme - die sich als alleiniger Fürst dieser Welt zu erkennen gab, der alles weiß, was auf Erden geschieht -, ihm die Menschen rings um ihn herum am Strand zu zeigen. Der brave Familienvater, der gerade die Sachen einpackte und den Kindern half, sich etwas überzuziehen, hätte gern eine Affäre mit der Sekretärin gehabt, fürchtete sich aber vor der Reaktion seiner Frau. Die Frau hätte gern gearbeitet und wäre gern unabhängig gewesen, doch sie fürchtete sich vor der Reaktion ihres Mannes. Die Kinder verhielten sich wohlerzogen, weil sie sich vor Strafen fürchteten. Die junge Frau, die allein in einem Sonnenzelt ein Buch las, tat angeödet, obwohl ihre Seele vor Furcht davor verging, den Rest ihres Lebens vielleicht allein verbringen zu müssen. Der Junge mit dem Tennisschläger trainierte seinen Körper, zitterte aber davor, den Erwartungen seiner Eltern nicht gerecht werden zu können. Der Kellner, der den reichen Gästen tropische Cocktails servierte, lebte in ständiger Angst vor einer fristlosen Entlassung. Da war eine junge Frau, die gern Tänzerin geworden wäre, jetzt aber, um nicht anzuecken, Jura studierte.
Und ein alter Mann, der weder rauchte noch trank, weil er sich angeblich so besser fühlte, dem aber in Wirklichkeit die Todesangst wie ein kalter Wind um die Ohren pfiff. Und das Pärchen, das fröhlich am Ufer entlanglief und das Wasser mit den Füßen aufwirbelte, verbarg hinter seinem Lächeln die Angst davor, alt, uninteressant und krank zu werden. Auch der braungebrannte Mann auf seinem Boot, der mitten am Strand vor Anker gegangen war und lachend winkte, hatte Angst, sein Geld von heute auf morgen zu verlieren. Selbst der Hotelbesitzer, der die ganze paradiesische Szenerie von seinem Büro aus betrachtete und seiner Kundschaft immer jeden Wunsch von den Augen ablas, zitterte bei dem Gedanken, die Steuerfahnder könnten ihm irgendwelche Unregelmäßigkeiten in seiner Buchhaltung nachweisen.