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Alle diese Menschen da am Strand lebten in ständiger Furcht, selbst bei diesem Sonnenuntergang, der einem den Atem nahm. Sie hatten Angst, allein zu bleiben; Angst vor der Dunkelheit, in der die Phantasie von Dämonen heimgesucht wurde; Angst, sich vorbeizubenehmen; Angst vor dem Richtspruch Gottes; Angst vor dem, was die anderen sagen könnten; Angst vor der Justiz, die jedes Vergehen bestrafte; Angst davor, ein Risiko einzugehen und eine Niederlage einzustecken; Angst, zu gewinnen und mit dem Neid der anderen leben zu müssen; Angst, zu lieben und abgewiesen zu werden; Angst davor, eine Gehaltserhöhung zu fordern, eine Einladung anzunehmen, an fremde Orte zu gehen, eine Fremdsprache nicht sprechen, andere nicht beeindrucken zu können; Angst vorm Altwerden und vorm Sterben; Angst davor, aufgrund seiner Fehler und nicht aufgrund seiner Vorzüge aufzufallen.

Angst, Angst, Angst. Das Leben war ein Terrorregime im Schatten der Guillotine. >Ich hoffe, das tröstet dich etwas<, hörte er den Dämon sagen. >Alle vergehen vor Angst. Du bist nicht allein. Der einzige Unterschied ist, daß du das Schwierigste schon hinter dir hast. Was du am meisten gefürchtet hast, ist geschehen. Du hast nichts zu verlieren, während die Menschen hier am Strand ständig mit dieser Angst leben. Einigen ist sie bewußter als anderen, die ihre Angst zu verdrängen suchen, doch alle wissen, daß es sie gibt und daß sie sie am Ende zu fassen kriegt.< So unglaublich es klingen mag, aber was er da hörte, beruhigte ihn, als könnte fremdes Leid sein eigenes lindern. Von da an wich der Dämon nicht mehr von seiner Seite. Er lebte jetzt seit zwei Jahren mit ihm, und es stimmte den Fremden weder froh noch traurig, zu wissen, daß er sich seiner Seele vollständig bemächtigt hatte.

Je mehr er sich an die Anwesenheit des Dämons gewöhnte, desto mehr wollte er über den Ursprung des Bösen wissen, erhielt jedoch auf keine seiner Fragen eine genaue Antwort:

>Es bringt nichts, herauszufinden, warum es mich gibt. Wenn du eine Erklärung haben willst, dann sage dir doch einfach, daß Gott in mir die Möglichkeit gefunden hat, sich dafür zu strafen, daß er in einem Augenblick der Zerstreutheit das Universum geschaffen hat.<

Da der Dämon selbst so wenig Auskunft gab, begann der Mann alles zusammenzusuchen, was es über die Hölle gab. Er fand heraus, daß die meisten Religionen etwas hatten, was sie den

>Ort der Strafe< nannten, an den sich die unsterbliche Seele begab, wenn sie gegen die Gesetze der Gemeinschaft verstoßen hatte (alles schien sich immer nur um die Gemeinschaft zu drehen und nicht um das Individuum). Einige besagten, daß der Geist, sobald er den Körper verlassen hatte, einen Fluß überqueren, sich einem Hund stellen und durch ein Tor gehen mußte, von dem es kein Zurück gab. Da der Leichnam in ein Grab getan wurde, stellte man sich diesen Ort der Qualen dunkel, im Inneren der Erde gelegen vor. Wegen der Vulkane wußte man, daß die Erde im Inneren voller Feuer war, und die Phantasie des Menschen schuf daraus die Flammen, die die Sünder peinigten.

Eine der interessantesten Beschreibungen der Verdammnis hatte er in einem arabischen Buch gefunden: Dort stand, daß die Seele, sobald sie den Körper verlassen habe, eine Brücke überqueren mußte, dünner als die Klinge eines Messers, auf deren rechten Seite das Paradies lag und auf der linken eine Reihe von Kreisen in die Dunkelheit im Erdinnern führten. Beim Überschreiten der Brücke (das Buch gab nicht an, wohin sie führte), trug jeder seine Tugenden in der rechten Hand und seine Sünden in der linken - und das Ungleichgewicht machte, daß er auf die Seite stürzte, zu der ihn seine Taten auf Erden geführt hatten.

Der christliche Glaube erzählte von einem Ort, an dem man Heulen und Zähneklappern hörte. Das Judentum sprach von einer inneren Hölle, in der es Raum für eine bestimmte Anzahl Seelen gab - eines Tages würde die Hölle voll sein und die Welt aufhören. Der Islam erzählte von einem Feuer, in dem alle verbrannt werden, »es sei denn, Gott wünschte das Gegenteil«.

Für die Hindus war die Hölle niemals ein Ort ewiger Qualen, da nach ihrem Glauben die Seele nach einer gewissen Zeit wiedergeboren wird, um die Sünden an der Stelle zu büßen, wo sie sie begangen hat -nämlich auf der Erde. Dennoch gab es 21

Orte des Leidens in dem, was der Hinduismus »die unteren Welten« nannte.

Auch die Buddhisten unterschieden zwischen verschiedenen Arten der Strafe, die die Seele erleiden konnte: acht Höllen aus Feuer, acht vollständig vereiste, dazu noch ein Reich, in dem der Verdammte weder Hitze noch Kälte, sondern nur unendlichen Hunger und Durst spürte.

Das war jedoch nichts im Vergleich zur ungeheuren Vielfalt, die sich die Chinesen ausgedacht haben. Im Gegensatz zu anderen Völkern, die die Hölle ins Erdinnere verlegten, gingen die Seelen der Sünder auf einen Berg mit dem Namen >Der kleine Eisenwall<, der von einem zweiten, dem Großen Wall, umgeben war. Den Raum zwischen den beiden Wällen beherrschten acht große, übereinanderliegende Höllen, die ihrerseits 16 kleine Höllen kontrollierten, die wiederum zehntausend darunterliegende Höllen kontrollierten. Für die Chinesen waren die Dämonen nichts anderes als die Seelen derjenigen, die ihre Strafen abgebüßt hatten, und lieferten somit als einzige eine überzeugende Erklärung für den Ursprung der Dämonen. Sie waren böse, weil sie die Bosheit am eigenen Leibe erfahren hatten und sie jetzt in einem unendlichen Zyklus der Rache an andere weitergeben wollten.

>Wie ich vielleicht auch<, sagte sich der Fremde, indem er sich an die Worte von Chantal Prym erinnerte. Der Dämon hatte sie auch gehört und gespürt, daß er ein bißchen von dem mühsam errungenen Terrain verloren hatte. Er konnte es nur zurückgewinnen, indem er jeglichen Zweifel aus dem Geist des Fremden ausräumte.

»In Ordnung, du hattest einen Zweifel«, sagte der Dämon.

»Aber die Furcht bleibt. Die Geschichte mit dem Galgen war wirklich gut, sie veranschaulicht sehr gut, daß die Menschen nur aus Angst tugendhaft sind, aber im Grunde sind sie schlecht, sie sind alle meine Nachfahren.«

Der Fremde zitterte vor Kälte, beschloß aber, das Fenster noch eine Weile offenzulassen.

»Gott, ich habe nicht verdient, was mir widerfahren ist. Was Du mit mir gemacht hast, kann ich auch anderen antun. Das ist Gerechtigkeit.«

Der Dämon erschrak, zog es aber vor, zu schweigen. Er konnte nicht zeigen, daß auch er von Furcht erfüllt war. Der Mann wetterte gegen Gott und rechtfertigte seine Taten, aber es war das erste Mal, daß er sich an den Himmel wandte.

Das war ein schlechtes Zeichen.

>Gutes Zeichen!< war Chantals erster Gedanke, als sie die Hupe des Lieferwagens hörte, der das Brot brachte. Das Leben in Bescos ging weiter wie immer, das Brot wurde gebracht, und die Leute kamen aus ihren Häusern. Sie würden den ganzen Samstag und Sonntag Zeit haben, den verrückten Vorschlag zu diskutieren, der ihnen gemacht worden war, und am Montag morgen fast reuevoll zusehen, wie der Fremde seine Koffer packte und abreiste. Am Nachmittag würde sie ihnen dann von der Wette erzählen, die sie abgeschlossen hatte, und ihnen verkünden, daß sie die Schlacht gewonnen hätten und nunmehr reich seien.

Sie würde nie zu den Heiligen gehören wie der heilige Savinus, aber man würde sich über viele Generationen ihrer als der jungen Frau erinnern, die das Dorf vor der zweiten Heimsuchung durch das Böse bewahrt hatte. Vielleicht würden Legenden um sie gerankt, künftige Bewohner des Ortes sie zu einer wunderschönen Frau hochstilisieren, die als einzige Bescos in jungen Jahren nicht verließ, weil sie eine Mission zu erfüllen hatte. Fromme Frauen würden ihr zu Ehren Kerzen anzünden, junge Männer seufzend für die Heldin schwärmen, die sie nicht kennenlernen konnten.

Sie war stolz auf sich; um keinen Preis durfte sie den Goldbarren erwähnen, der ihr gehörte, denn sonst würden die anderen sie am Ende noch davon überzeugen, daß zum Heiligsein auch gehörte, daß man sein Hab und Gut verteilte.