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Auf ihre Art half sie dem Fremden, seine Seele zu retten, und Gott würde das berücksichtigen, wenn sie dereinst über ihre Taten Zeugnis ablegen mußte. Das Schicksal dieses Mannes war ihr letztlich gleichgültig. Sie wünschte sich nur sehnlichst, daß die kommenden zwei Tage so schnell wie möglich vergingen, denn länger konnte sie ihr Geheimnis nicht für sich behalten.

Die Bewohner von Bescos waren weder besser noch schlechter als die der Nachbarorte, aber eins waren sie ganz gewiß nicht: Menschen, die für Geld ein Verbrechen begingen. Dessen war sie sich sicher. Jetzt, wo die Geschichte publik war, konnte keiner mehr eigenmächtig handeln, denn erstens würde die Belohnung gleichmäßig verteilt werden, und sie kannte niemanden, der wegen eines Gewinns, den andere machen könnten, ein Risiko eingehen würde. Und selbst für den undenkbaren Fall, daß einer es trotzdem versuchte, konnte er dies nur im Einverständnis mit den anderen tun - das erwählte Opfer natürlich ausgenommen. Es brauchte nur ein Mensch dagegen zu sein - und notfalls würde sie dieser Mensch sein -, und die Männer und Frauen von Bescos liefen Gefahr, samt und sonders angezeigt und festgenommen zu werden. Da blieb man besser arm und ehrbar, als reich im Gefängnis zu landen.

>In diesem Drei-Straßen-Dorf löste schon eine einfache Bürgermeisterwahl hitzige Debatten und Zwietracht aus<, überlegte Chantal, während sie die Treppe hinunterstieg. Als sie einen Kinderspielplatz im unteren Teil von Bescos bauen wollten, waren sie sich derart in die Haare geraten, daß er nie gebaut wurde. Die einen sagten, es gebe ohnehin keine Kinder im Ort, die anderen hielten lautstark dagegen, ein Spielplatz würde wieder Kinder nach Bescos zurückbringen, wenn deren Eltern in den Ferien den Ort besuchten und feststellten, daß es einen Fortschritt gegeben habe. In Bescos wurde alles diskutiert: die Qualität des Brotes, die Jagdvorschriften, ob es einen verfluchten Wolf gab oder nicht, der Fremde, Berthes Verhalten und - hinter vorgehaltener Hand - vermutlich auch Chantal Pryms Schäferstündchen mit diversen Hotelgästen.

Sie ging zum Lieferwagen wie jemand, der erstmals im Leben eine Hauptrolle in der Dorfgeschichte spielt. Bislang war sie nur immer die arme Waise gewesen, die nirgendwo dazugehörte, das junge Mädchen, das keinen Mann fand, die bedauernswerte Serviererin, die Abend für Abend bedienen mußte. Ihr Warten würde nicht umsonst sein. Noch zwei Tage, und alle würden ihr die Füße küssen, ihr für den Reichtum und ihre Großzügigkeit danken, vielleicht darauf bestehen, daß sie bei den nächsten Bürgermeisterwahlen kandidierte (so gedacht, wäre es vielleicht besser, noch etwas hier zu bleiben und den Ruhm noch etwas zu genießen).

Die Gruppe von Leuten um den Lieferwagen kaufte schweigend ihr Brot. Alle wandten sich zu ihr um, sagten aber kein einziges Wort.

»Was ist hier los?« fragte der junge Mann, der das Brot ausfuhr. »Ist jemand gestorben?«

»Nein«, antwortete der Schmied, der da war, obwohl es Samstagmorgen war und er hätte ausschlafen können. »Es geht jemandem schlecht, und wir machen uns Sorgen.«

Chantal verstand nicht recht, was da geschah.

»Kaufen Sie schnell, was Sie brauchen«, hörte sie jemanden sagen. »Der junge Mann muß weiter.«

Sie streckte ihm automatisch die Münzen hin und nahm ihr Brot. Der junge Mann vom Lieferwagen zuckte mit den Schultern und fragte nicht weiter, reichte ihr das Wechselgeld, wünschte allen einen guten Tag und fuhr davon.

»Jetzt hätte ich aber gern gewußt: Was ist hier los?« sagte sie, und vor Angst war ihre Stimme ungebührlich laut. »Sie wissen doch, was los ist«, sagte der Schmied. »Sie wollen, daß wir für Geld ein Verbrechen begehen.«

»Ich will überhaupt nichts! Ich habe nur getan, was dieser Mann von mir verlangt hat. Seid ihr denn alle verrückt geworden?«

»Sie sind verrückt geworden. Sie hätten sich nie zum Boten dieses Wahnsinnigen machen dürfen! Was wollen Sie?

Verdienen Sie etwas daran? Wollen Sie diesen Ort zur Hölle machen, wie in der berühmten arabischen Geschichte? Haben Sie Anstand und Ehre vergessen?«

Chantal zitterte.

»Ihr seid alle verrückt geworden! Hat jemand von euch diese Wette etwa ernst genommen?«

»Laßt sie«, sagte die Wirtin. »Kümmern wir uns um unser Frühstück.«

Die Gruppe löste sich allmählich auf. Chantal zitterte immer noch, hielt das Brot in der Hand und konnte sich nicht wegbewegen. All diese Leute, die immer übereinander herzogen, waren sich zum ersten Mal einig: Sie war die Schuldige. Nicht der Fremde, nicht die Wette. Nein, sie, Chantal Prym, war diejenige, die zum Verbrechen aufgefordert hatte.

Stand die Welt plötzlich kopf?

Sie legte das Brot vor ihre Tür und ging hinaus in die Berge. Sie hatte weder Hunger noch Durst noch sonst irgendeinen Wunsch. Sie hatte etwas sehr Wichtiges begriffen, etwas, was sie mit Angst und Schrecken erfüllte.

Niemand hatte dem Mann mit dem Lieferwagen ein Wort gesagt.

Ein solches Ereignis wäre sonst selbstverständlich mit empörtem Gelächter quittiert worden, aber der Mann mit dem Lieferwagen, der Brot und Klatsch in die Dörfer der Umgebung ausfuhr, war ahnungslos weitergefahren. Offenbar waren die Leute von Bescos an diesem Tag zum ersten Mal zusammengekommen.

Niemand hatte Zeit gehabt, über das zu reden, was in der Nacht zuvor in der Bar vorgefallen war, dennoch waren bereits ausnahmslos alle im Bild und unbewußt einen Pakt des Schweigens eingegangen.

Möglicherweise hatte also jeder von ihnen im Grunde seines Herzens das Undenkbare gedacht, sich das Unvorstellbare vorgestellt.

Berthe rief sie. Sie saß wie immer auf ihrem Platz und wachte über den Ort - vergebens, denn die Gefahr war bereits da und erwies sich als viel größer, als irgendeiner sich vorstellen konnte.

»Ich möchte jetzt nicht reden«, sagte Chantal. »Ich kann überhaupt weder denken noch reden noch sonstwie reagieren.«

»Dann hör einfach zu. Setz dich.«

Seit dem Aufwachen heute früh war Berthe die einzige, die sie höflich behandelte. Chantal setzte sich nicht nur, sondern umarmte sie lange schweigend, bis Berthe das Schweigen brach.

»Geh jetzt in den Wald, das bringt dich auf andere Gedanken.

Du weißt, daß dies nicht dein Problem ist. Sie wissen das auch, aber sie brauchen einen Sündenbock.«

»Es ist der Fremde.«

»Das wissen du und ich. Sonst aber niemand. Alle wollen glauben, daß sie verraten wurden, daß du das längst hättest erzählen sollen, daß du ihnen nicht vertraut hast.«

»Verraten?«

»Ja.«

»Warum wollen sie das glauben?«

»Denk einmal nach.«

Chantal überlegte. Weil sie einen Sündenbock brauchten. Ein Opfer.

»Ich weiß nicht, wie diese Geschichte enden wird«, sagte Berthe. »Bescos ist ein Ort, in dem ehrbare Menschen leben, auch wenn sie, wie du selbst gesagt hast, etwas feige sind.

Trotzdem gehst du vielleicht am besten eine Weile fort.« Berthe machte Witze. Eine solche Wette konnte niemand ernst nehmen. Niemand. Und sie, Chantal, hatte weder Geld noch einen Ort, an den sie hätte gehen können.

Das stimmte nicht: Ein Goldbarren erwartete sie und konnte sie an jeden Ort auf dieser Welt bringen. Aber daran wollte sie auf gar keinen Fall denken.

War es Ironie des Schicksals, daß just in diesem Moment der Fremde an ihnen vorbei in die Berge ging, wie jeden Morgen?

Er grüßte sie mit einem Nicken und schritt weiter aus. Berthe folgte ihm mit dem Blick, während Chantal festzustellen versuchte, ob jemand im Ort zugesehen hatte. Die würden sagen, sie sei seine Komplizin. Sie würden sagen, es gebe einen Geheimkode zwischen ihnen beiden.

»Er ist ernster«, sagte Berthe. »Irgend etwas ist da seltsam.«

»Vielleicht ist ihm klargeworden, daß sein Scherz bitterer Ernst geworden ist.«