»Nein, es ist noch etwas anderes. Ich weiß nicht, was... aber es ist so, als... nein, nein, ich weiß nicht, was es ist.«
>Mein Mann wird es wissen<, dachte Berthe und spürte ein nervöses, unbehagliches Gefühl, das von links zu ihr herüberkam. Aber jetzt war nicht der geeignete Augenblick, um mit ihm zu reden.
»Irgendwie erinnert mich das Ganze an die Geschichte mit Ahab«, sagte sie zu Chantal Prym.
»Ich will nichts von Ahab, keine Geschichten, ich will überhaupt nichts hören! Ich will nur, daß die Welt wieder so ist, wie sie war, daß Bescos mit all seinen Fehlern nicht durch den Wahnsinn eines Mannes zerstört wird!«
»Sieht so aus, als liebtest du diesen Ort mehr, als du denkst.«
Chantal zitterte. Berthe umarmte sie wieder und bettete Chantals Kopf an ihre Schulter, als wäre sie die Tochter, die sie nicht gehabt hatte.
»Wie ich schon sagte, kannte Ahab eine Geschichte über die Hölle und den Himmel, die früher von den Eltern auf die Kinder überging, heute aber längst vergessen ist. Ein Mann, sein Pferd und sein Hund wanderten eine Straße entlang. Als sie nahe an einem riesigen Baum vorbeikamen, erschlug ein Blitz alle drei.
Doch der Mann bemerkte nicht, daß sie diese Welt bereits verlassen hatten, und wanderte mit seinen beiden Tieren weiter. Manchmal brauchen die Toten etwas Zeit, bis sie sich ihrer neuen Lage bewußt werden...«
Berthe dachte an ihren Mann, der immer noch drängte, sie solle die junge Frau wegschicken, da er ihr etwas Wichtiges mitzuteilen habe. Vielleicht war es an der Zeit, ihm zu erklären, daß er tot war und sie nicht andauernd bei ihrer Geschichte unterbrechen sollte.
»Die Wanderung war sehr weit, führte hügelan, die Sonne brannte, und sie waren verschwitzt und durstig. An einer Wegbiegung sahen sie ein wunderschönes marmornes Tor, das zu einem mit Gold gepflasterten Platz führte, mit einem Brunnen in der Mitte, aus dem kristallklares Wasser floß. Der Wanderer wandte sich an den Mann, der das Tor bewachte.
>Guten Tag.<
>Guten Tag<, entgegnete der Wächter.
>Ein wunderschöner Ort ist das hier, wie heißt er?<
>Hier ist der Himmel.<
>Wie gut, daß wir im Himmel angekommen sind, denn wir haben großen Durst.<
>Sie können gern hereinkommen und soviel Wasser trinken, wie Sie wollen<, sagte der Wächter und wies auf den Brunnen.
>Mein Pferd und mein Hund haben auch Durst.<
>Tut mir leid<, sagte der Wächter. >Tieren ist der Zutritt verboten.<
Der Mann war enttäuscht, weil sein Durst groß war, aber er wollte nicht allein trinken. Er dankte dem Wächter und zog weiter. Nachdem sie lange bergauf gewandert waren, kamen sie an einen Ort mit einem alten Gatter, das auf einen mit Bäumen gesäumten Weg aus gestampfter Erde ging. Im Schatten eines der Bäume lag ein Mann, den Hut in die Stirn gedrückt, und schien zu schlafen. >Guten Tag<, sagte der Wanderer.
Der Mann nickte.
>Wir haben großen Durst, mein Pferd, mein Hund und ich.<
>Dort zwischen den Steinen ist eine Quelles sagte der Mann und wies auf die Stelle. >Ihr könnt nach Lust und Laune trinken.<
Der Mann, das Pferd und der Hund gingen zur Quelle und stillten ihren Durst.
Der Wanderer dankte abermals.
>Kommt wieder, wann ihr wollt<, antwortete der Mann.
>Wie heißt übrigens dieser Ort?<
>Himmel.<
>Himmel? Aber der Wächter am Marmortor hat mir gesagt, daß dort der Himmel sei.<
>Das war nicht der Himmel, das war die Hölle.< Der Wanderer war verwirrt. >Ihr solltet verbieten, daß sie euren Namen benutzen! Diese falsche Auskunft wird viel Durcheinander stiften!<
>Auf gar keinen Fall. In Wahrheit tun die uns einen großen Gefallen. Denn dort bleiben alle, die es fertigbringen, ihre besten Freunde im Stich zu lassen.< Berthe streichelte den Kopf der jungen Frau und spürte, daß das Gute und das Böse sich darin einen unerbittlichen Kampf lieferten; sie riet ihr, in den Wald zu gehen und die Natur zu fragen, an welchen Ort sie sich begeben solle.
»Denn ich ahne, daß unser kleines, in die Berge geschmiegtes Paradies kurz davor steht, seine Freunde im Stich zu lassen.«
»Sie irren sich, Berthe. Sie gehören einer anderen Generation an. Die Menschen hier haben Würde. Und wenn sie keine Würde haben, so mißtrauen sie einander. Und wenn sie kein Mißtrauen haben, dann haben sie Angst.«
»Gut, dann irre ich mich eben. Trotzdem: Tu mir den Gefallen und hör, was die Natur dir zu sagen hat.« Chantal machte sich auf den Weg. Und Berthe wandte sich an den Geist ihres Mannes, bat ihn, sich nicht aufzuregen und sie nicht ständig zu unterbrechen, wenn sie einem jüngeren Menschen zu raten versuche. Sie sei eine erwachsene Frau und ein reifer Mensch dazu. Sie könne sich inzwischen gut um sich selber kümmern, und jetzt müsse sie sich um das Dorf kümmern.
Ihr Mann bat sie, vorsichtig zu sein und der jungen Frau nicht zu viele gute Ratschläge zu geben, schließlich wisse niemand, wohin diese Geschichte noch einmal führen würde.
Berthe war überrascht, denn sie hatte immer geglaubt, die Toten wüßten alles. Hatte denn nicht ihr verstorbener Mann sie vor der nahenden Gefahr gewarnt? Vielleicht wurde er zu alt und fing an, sich noch andere Macken zuzulegen als nur die, seine Suppe partout nur mit einem ganz bestimmten Löffel essen zu wollen.
Der Mann sagte, alt sei sie, denn die Toten blieben immer gleich alt. Und auch wenn sie Dinge wüßten, die die Lebenden nicht kannten, brauchten sie doch länger, um in dem Ort aufgenommen zu werden, an dem die höheren Engel leben. Er sei noch ein neuer Toter (es sei keine fünfzehn Jahre her, seit er die Erde verlassen habe) und hätte noch viel zu lernen, auch wenn er bereits eine Menge helfen könne.
Berthe fragte, ob der Ort der höheren Engel schöner und angenehmer sei. Ihr Mann meinte, es ginge ihm gut, sie solle mit ihren Scherzen aufhören und ihre Energie darauf verwenden, Bescos zu retten. Nicht daß ihn das besonders interessiere - schließlich sei er tot -, bislang habe niemand das Thema der Wiedergeburt angesprochen (wenngleich er schon einige Unterhaltungen zu dieser Möglichkeit gehört habe), aber selbst wenn eine Reinkarnation möglich sei, wolle er an einem Ort wiedergeboren werden, den er nicht kenne. Ihm sei daran gelegen, daß seine Frau es in den Tagen, die ihr noch auf dieser Welt vergönnt waren, ruhig und gut habe.
>Dann mach dir keine Sorgens dachte Berthe. Der Mann wollte davon nichts wissen. Er drängte sie, etwas zu unternehmen. Wenn das Böse siegte - selbst in einem kleinen, vergessenen Ort wie Bescos, mit seinen drei Straßen, einem Platz und einer Kirche -, konnte es von da auf das Tal, die Region, das Land, den Kontinent, die Meere, die ganze Welt übergreifen.
Obwohl Bescos 281 Einwohner zählte - mit Berthe als Dorfältester und Chantal als -jüngster -, hatte doch nur ein halbes Dutzend Personen im Ort das Sagen: Die Wirtin war für das Wohlergehen der Touristen zuständig, der Priester für das Seelenheil, der Bürgermeister für die Jagdvorschriften, die Bürgermeistersfrau für den Bürgermeister und seine Entscheidungen; und dann waren da noch der Schmied, der vom verfluchten Wolf gebissen worden war und überlebt hatte, und der Mann, dem die meisten Ländereien in der Umgegend gehörten. Er war es übrigens gewesen, der sein Veto gegen den Bau eines Spielplatzes eingelegt hatte, weil sich das Grundstück ausgezeichnet für eine Luxussiedlung eignete. Die anderen Bewohner von Bescos kümmerte wenig, was im Ort geschah oder nicht, weil sie mit ihren Schafen, Feldern und Familien genug zu tun hatten. Sie gingen in die Hotelbar und zur Messe, befolgten die Gesetze, ließen ihre Werkzeuge beim Schmied reparieren und kauften hin und wieder ein Stück Land dazu.
Der Besitzer der Ländereien kam nie in die Bar. Er hatte von der Geschichte durch seine Angestellte erfahren, die an jenem Abend dort gewesen und aufgeregt nach Haus gegangen war, um ihren Freundinnen und ihm zu berichten, daß der Hotelgast ein reicher Mann war, mit dem es sich lohnen könnte, ein Kind zu zeugen, um so an einen Teil seines Vermögens zu kommen.