Aus Sorge um die Zukunft - oder aus Angst, Chantal Pryms Geschichte könnte sich herumsprechen und Jäger und Touristen künftig fernhalten - hatte er eine Krisensitzung einberufen. Und während Chantal durch den Wald stapfte, der Fremde sich in seinen geheimnisvollen Wanderungen erging und Berthe mit ihrem Mann darüber sprach, wie sie es anstellen sollte, den Ort zu retten, versammelten sich die sechs Honoratioren des Dorfes in der Sakristei der kleinen Kirche. »Uns bleibt nichts anderes übrig, als die Polizei zu rufen«, begann der Besitzer der Ländereien. »Das Gold gibt es überhaupt nicht. Dieser Mann will nur einfach meine Angestellte verführen.«
»Sie können nicht mitreden, denn Sie waren ja gar nicht dabei«, entgegnete der Bürgermeister. »Das Gold gibt es tatsächlich. Chantal Prym wird doch ihren Ruf nicht ohne einen konkreten Beweis aufs Spiel setzen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß wir die Polizei rufen müssen. Der Fremde ist wahrscheinlich ein gesuchter Bandit, auf den ein Kopfgeld ausgesetzt ist und der versucht, seine Beute hier ins trockene zu bringen.«
»Unsinn!« unterbrach ihn die Bürgermeistersfrau. »Dann würde er sich doch viel unauffälliger verhalten.«
»Stimmt alles nicht. Wir müssen die Polizei rufen«, meldete sich erneut der Besitzer der Ländereien.
Dann waren sich alle einig. Der Priester schenkte Wein aus, damit sich die Geister beruhigten. Sie begannen abzusprechen, was sie der Polizei sagen wollten, da sie keinen Beweis gegen den Fremden hatten. Es war durchaus möglich, daß alles mit der Festnahme von Chantal Prym wegen Anstiftung zu einem Verbrechen endete. »Der einzige Beweis ist das Gold. Ohne Gold wird nichts daraus.«
Klar. Aber wo war das Gold? Nur eine einzige Person hatte es gesehen, und die wußte nicht, wo es versteckt war.
Der Priester schlug vor, Suchtrupps zu bilden. Die Hotelbesitzerin trat an das Fenster der Sakristei, das zum Friedhof hinausging.
Sie wies auf die Berge auf der einen Seite, die Berge auf der anderen und das Tal dazwischen.
»Wir würden hundert Jahre und hundert Leute brauchen.«
Der Besitzer der Ländereien bedauerte insgeheim, daß der Friedhof ausgerechnet an dieser Stelle angelegt worden war.
Der Blick war wundervoll, und die Toten hatten ohnehin nichts davon. »Irgendwann würde ich gern mit Ihnen über den Friedhof reden«, sagte er zum Priester. »Ic h könnte Ihnen im Tausch gegen diesen Friedhof neben der Kirche einen viel größeren Platz für die Toten ganz in der Nähe anbieten.«
»Niemand wird das Land kaufen wollen, um da zu bauen, wo früher die Toten gewohnt haben.«
»Vielleicht niemand von hier. Aber die Touristen, die sind ganz verrückt nach Sommerhäusern. Man muß nur die Hiesigen bitten, nichts darüber zu sagen. Das brächte mehr Geld für die Stadt und mehr Steuern für das Bürgermeisteramt.«
»Sie haben recht. Man muß sie nur bitten, nichts zu sagen. Das wird nicht schwierig sein.«
Und plötzlich herrschte Stille. Eine lastende Stille, die niemand zu brechen wagte. Die beiden Frauen schauten zum Fenster hinaus, der Priester polierte eine kleine Bronzeskulptur, der Ländereienbesitzer schenkte sich noch einen Schluck Wein nach, der Schmied spielte mit den Schnürsenkeln seiner Stiefel.
Und der Bürgermeister sah andauernd auf die Uhr, als hätte er noch weitere Termine.
Keiner rührte sich. Sie wußten genau, daß in Bescos alle wie ein Mann geschwiegen hätten, wenn sich ein Interessent für das Grundstück gefunden hätte, auf dem jetzt der Friedhof lag.
Allein schon um sich daran zu weiden, daß ein anderer versuchte, in dem vom Aussterben bedrohten Kaff zu überleben. Und keiner hätte sich für sein Stillschweigen bezahlen lassen.
Stellt euch vor, ihr würdet es bekommen.
Stellt euch vor, ihr würdet soviel Geld bekommen, daß es bis an euer Lebensende reichen würde.
Stellt euch vor, ihr würdet soviel Geld bekommen, daß es bis an euer Lebensende und das Lebensende eurer Kinder reichen würde.
In genau diesem Augenblick wehte ein unerwarteter Windstoß durch die Sakristei. »Was schlagt ihr nun vor?« fragte der Priester nach fünf langen Minuten.
Alle wandten sich ihm zu.
»Wenn die Bewohner wirklich nichts sagen würden, denke ich, könnten wir die Verhandlungen weiter vorantreiben«, antwortete der Besitzer der Ländereien, der seine Worte sorgfältig wählte, damit er nicht falsch, bzw. damit er richtig verstanden wurde. »Es sind brave, arbeitsame, zurückhaltende Leute«, fuhr die Hotelbesitzerin ebenso doppeldeutig fort.
»Heute noch, als der junge Bäckergeselle wissen wollte, was bei uns los ist, hat keiner was gesagt. Ich glaube, wir können ihnen vertrauen.«
Wieder herrschte Schweigen. Nur diesmal war es bedrückend, nicht mehr zu überspielen. Dennoch ging das Spiel weiter, und der Schmied ergriff das Wort:
»Das Problem ist nicht die Verschwiegenheit der Bewohner, sondern die Tatsache, daß es unmoralisch, inakzeptabel ist, dies zu tun.«
»Was zu tun?«
»Geheiligtes Land zu verkaufen.«
Ein erleichtertes Seufzen ging durch den Saal. Jetzt konnten sie die Frage der Moral angehen, da die praktische Seite weit gediehen war.
»Unmoralisch ist es, zuzuschauen, wie Bescos verfällt«, sagte die Bürgermeistersfrau. »Bewußt mit anzusehen, daß wir die letzten sind, die hier leben, und daß der Traum unserer Großeltern, unserer Vorfahren, Ahabs, der Kelten, in ein paar Jahren ausgeträumt sein wird. In Kürze werden auch wir den Ort verlassen: Die einen gehen ins Altersheim, die anderen wandern in die großen Städte ab und klammern sich dort an ihre Kinder, weil sie sich am neuen Ort nicht eingewöhnen können und Heimweh haben nach Bescos, das sie der nachfolgenden Generation nicht so weitergeben konnten, wie sie es von der Elterngeneration übernommen haben.« »Sie haben recht«, fuhr der Schmied fort. »Das Leben, das wir führen, ist unmoralisch. Denn wenn Bescos so weitermacht, liegen diese Felder von einem Tag auf den anderen brach oder werden für einen Apfel und ein Ei verkauft: Maschinen werden kommen, bessere Straßen werden gebaut werden. Die Häuser werden abgerissen, Metallkonstruktionen werden an die Stelle der Steinbauten treten, die unsere Vorfahren einstmals mühsam aufgeschichtet haben. Die Felder werden mit Maschinen bestellt, die Landarbeiter kommen tagsüber und kehren abends in ihre weit abgelegenen Behausungen zurück.
Es ist eine Schande für unsere Generation. Wir haben unsere Kinder nicht halten können und mußten sie in die großen Städte ziehen lassen.«
»Wir müssen unser Bescos wie auch immer erhalten«, sagte der Ländereienbesitzer, der vielleicht als einziger vom Niedergang des Dorfes profitierte, da er alles aufkaufen und anschließend an irgendeine Großindustrie weiterverkaufen konnte. Aber er war nicht daran interessiert, Land billig zu verkaufen, in dem vielleicht ein Vermögen vergraben lag.
»Möchten Sie etwas dazu sagen, Pater?« fragte die Wirtin.
»Das einzige, was ich gut kenne, ist meine Religion, wo das Opfer eines einzigen Menschen die ganze Menschheit gerettet hat.«
Schweigen senkte sich ein drittes Mal über sie, aber nur kurz.
»Ich muß mich jetzt für die Samstagsmesse vorbereiten«, fuhr er fort. »Wollen wir uns heute abend wieder treffen?«
Alle waren sofort einverstanden und hatten es, nachdem sie eine Uhrzeit ausgemacht hatten, plötzlich sehr eilig
wegzukommen.
Nur der Bürgermeister ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Was Sie da eben gesagt haben, ergäbe ein ausgezeichnetes Thema für eine Predigt. Ich glaube, wir sollten heute alle zur Messe gehen.«
Chantal zögerte nicht mehr. Sie ging geradewegs zu dem y-förmigen Stein und überlegte, was sie tun würde, sobald sie das Gold in Händen hatte. Nach Hause gehen, das dort verwahrte Geld nehmen, festere Schuhe anziehen, die Straße hinunter ins Tal gehen, einen Wagen anhalten, der sie mitnehmen würde. Keine Wette. Diese Leute verdienten das Vermögen nicht, das sie in Reichweite hatten. Keine Koffer: Sie wollte nicht, daß sie merkten, wie sie Bescos mit seinen schönen, aber nutzlosen Geschichten, seinen feigen, freundlichen Bewohnern, seiner Bar, die immer voll von Leuten war, die stets über das gleiche redeten, seiner Kirche, in die sie nicht mehr ging, für immer verließ. Selbstverständlich konnte es passieren, daß die Polizei am Busbahnhof auf sie wartete, der Fremde sie des Diebstahls beschuldigte usw. usw. Aber mittlerweile war sie soweit, daß sie jedes Risiko in Kauf nahm.