Er verschwand im Wald und wartete, bis seine Ohren sich an das Summen der Insekten, das Vogelgezwitscher und das Rauschen des Windes gewöhnt hatten, der die kahlen Zweige gegeneinanderschlug. Er wußte, daß er hier leicht beobachtet werden konnte, ohne es zu bemerken, und verharrte fast eine Stunde lang reglos.
Als er davon ausgehen konnte, daß ein möglicher Beobachter inzwischen enttäuscht aufgegeben hatte und ohne eine Neuigkeit, die er im Dorf erzählen könnte, wieder abgezogen war, grub er in der Nähe einer y-förmigen Felsformation ein Loch und versteckte dort einen Barren. Dann stieg er den Berg noch ein Stück weiter hinauf, verharrte dort noch eine weitere Stunde, scheinbar ganz in die Betrachtung der Natur versunken, bis er eine andere Felsformation, die einem Adler ähnelte, sah und dort ein weiteres Loch grub, in das er die restlichen zehn Goldbarren legte.
Der erste Mensch, den er auf dem Weg zurück ins Dorf traf, war eine junge Frau; sie saß an einem Bach, der wegen der Schneeschmelze viel Wasser führte. Als sie ihn kommen hörte, hob sie den Blick von dem Buch, in dem sie gerade las, schaute ihn kurz an und las dann weiter. Schließlich gehörte es sich nicht, das Wort an einen Fremden zu richten.
Fremde, die an einen neuen Ort kommen, haben jedoch das Recht, mit Unbekannten Freundschaft zu schließen, und so trat er näher.
»Hallo«, sagte er. »Es ist für diese Jahreszeit sehr warm.«
Sie nickte.
Der Fremde ließ nicht locker: »Ich möchte, daß Sie sich etwas ansehen.«
Sie legte höflich das Buch zur Seite, streckte die Hand aus und stellte sich vor.
»Ich heiße Chantal und arbeite abends in der Bar des Hotels, in dem Sie abgestiegen sind. Ich habe mich schon gewundert, daß Sie nicht zum Abendessen runtergekommen sind. Das Hotel lebt nämlich nicht nur von der Vermietung der Zimmer, sondern auch von dem, was die Gäste konsumieren. Sie sind Carlos aus Argentinien und wohnen in Buenos Aires in der Calle Colombia. Alle hier im Ort wissen das bereits, weil ein Mensch, der hier außerhalb der Jagdsaison auftaucht, immer Neugier erweckt. Ein Mann von etwa fünfzig Jahren mit grauem Haar und dem Blick von jemandem, der schon viel erlebt hat.«
»Ich bin zweiundfünfzig und heiße nicht Carlos und alle anderen Angaben im Melderegister sind ebenso falsch.«
Chantal wußte nicht, was sie sagen sollte. Der Fremde fuhr fort:
»Ich will Ihnen nicht Bescos zeigen, sondern etwas, was Sie noch nie gesehen haben.«
Sie hatte schon viele Geschichten von Mädchen gelesen, die einem Fremden in den Wald gefolgt und darauf spurlos verschwunden waren. Einen Augenblick lang fürchtete sie sich, doch dann siegte die Abenteuerlust. Dieser Mann würde letztlich nicht wagen, ihr etwas anzutun, denn sie hatte ja gerade gesagt, alle im Ort wüßten von ihm, auch wenn die Angaben im Register nicht mit der Wahrheit übereinstimmten.
»Wer sind Sie?« fragte sie. »Wenn es wahr ist, was Sie da sagen, woher wissen Sie dann, daß ich nicht zur Polizei gehe und Sie wegen falscher Angaben anzeige?«
»Ich verspreche, alle Ihre Fragen zu beantworten, aber erst einmal müssen Sie mit mir kommen, denn ich möchte Ihnen etwas zeigen. Es ist fünf Minuten von hier.«
Chantal klappte das Buch zu, atmete tief durch und betete stumm, während in ihrem Herzen Aufregung und Angst herrschten. Dann erhob sie sich und folgte dem Fremden. Es würde eine weitere dieser frustrierenden Begegnungen in ihrem Leben werden, die stets verheißungsvoll begannen und als ein weiterer unerfüllter Traum von der großen Liebe endeten.
Der Mann ging zu dem y-förmigen Stein, deutete auf die erst kürzlich ausgehobene Erde und forderte Chantal auf freizulegen, was dort vergraben lag.
»Aber ich werde mir meine Hände und meine Kleidung dreckig machen«, protestierte Chantal.
Der Mann nahm einen Ast vom Boden, brach ihn durch und reichte ihn ihr zum Graben. Sie fand sein Verhalten merkwürdig, tat aber schließlich, was er von ihr verlangte. Fünf Minuten später förderte Chantal den schmutzigen, gelben Barren zutage.
»Das sieht wie Gold aus«, sagte sie.
»Das ist Gold. Es gehört mir. Bedecken Sie es wieder mit Erde.«
Sie gehorchte. Der Mann führte sie zu dem anderen Versteck.
Wieder grub sie. Diesmal war sie wie geblendet von der Menge des Goldes.
»Auch das ist Gold. Und es gehört ebenfalls mir«, sagte der Fremde.
Sie schwieg.
»Wer sind Sie eigentlich? Und was machen Sie hier? Warum haben Sie mir das hier gezeigt, wo Sie doch wissen, daß ich allen erzählen kann, was an diesem Berg versteckt ist.«
»Viele Fragen auf einmal«, murmelte der Fremde, der den Blick geistesabwesend auf den Berg gerichtet hatte, als würde er ihre Gegenwart nicht wahrnehmen. »Daß Sie es weitererzählen, entspricht zumindest genau meinem Plan.«
»Sie haben mir versprochen, daß Sie, wenn ich mitkomme, all meine Fragen beantworten.«
»Erstens sollten Sie Versprechen keinen Glauben schenken.
Die Welt ist voll davon: Reichtum, ewige Erlösung, unendliche Liebe. Es gibt Menschen, die glauben alles versprechen zu können; andere - wie Sie - greifen blind nach allem, was ihnen bessere Zeiten verspricht. Diejenigen, die etwas versprechen und es nicht halten, fühlen sich am Ende machtlos und frustriert. Das gleiche gilt für jene, die sich blind auf einmal gegebene Versprechen verlassen.«
Er merkte, daß er alles nur komplizierter machte, als er von seinem eigenen Leben, von einer Nacht erzählte, die sein Schicksal verändert hatte, von den Lügen, an die er sich geklammert hatte, weil er der Realität nicht ins Auge blicken konnte. Ihm wurde bewußt, daß er verständlich reden mußte, damit sie begriff, was er sagen wollte. Chantal verstand jedoch fast alles. Wie jeder ältere Mann, sagte sie sich, dachte er nur an Sex mit jemand Jüngerem. Wie jeder Mensch glaubte er, mit Geld alles kaufen zu können. Wie jeder Fremde war er sicher, die Mädchen eines Provinznestes wären alle naiv genug, jeden noch so absurden Vorschlag anzunehmen, solange er eine entfernte Möglichkeit mit einschloß, von hier wegzukommen.
Er war nicht der erste und würde leider auch nicht der letzte sein, der versuchen würde, sie auf so plumpe Art zu verführen.
Verwirrend war allerdings die Menge Gold, die er anbot. Sie hatte nie gedacht, soviel wert zu sein, und das ängstigte sie und schmeichelte ihr zugleich.
»Ich bin alt genug, um nicht mehr auf windige Versprechen hereinzufallen«, entgegnete sie und versuchte Zeit zu schinden.
»Obwohl Sie ihnen immer geglaubt haben und es auch jetzt noch tun.«
»Da irren Sie sich aber. Ich weiß, daß ich im Paradies lebe, ich habe die Bibel schon gelesen und werde nicht den gleichen Fehler machen wie Eva, die sich nicht mit dem zufriedengab, was sie hatte.«
Das stimmte natürlich nicht, und jetzt machte sie sich allmählich Sorgen, daß der Fremde das Interesse verlieren und gehen könnte. Tatsächlich hatte sie es selber so eingerichtet, daß er sie im Wald treffen mußte. Sie hatte sich extra an eine Stelle gesetzt, an der er auf dem Heimweg vorbeikommen mußte, damit sie jemanden hatte, mit dem sie sich unterhalten konnte, der sie vielleicht noch mit einem Versprechen umgarnen und ihr eine Liebe vorgaukeln würde, die ihr ein paar Tage lang den Traum schenkte, ihr Tal, in dem sie geboren war, für immer zu verlassen. Ihr Herz war schon viele Male verletzt worden, und dennoch glaubte sie immer noch, daß sie eines Tages den Mann ihres Lebens finden würde. Anfangs hatte sie viele Gelegenheiten verstreichen lassen, weil sie fand, daß der Richtige noch nicht gekommen war, aber jetzt fühlte sie, daß die Zeit immer schneller verging, und war entschlossen, Bescos mit dem erstbesten Mann zu verlassen, der sie mitzunehmen bereit war, selbst wenn sie - noch - nichts für ihn empfand.
Auch Liebe war eine Frage der Zeit.