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Der Haß, den sie noch eine halbe Stunde zuvor empfunden hatte, war einem sehr viel angenehmeren Gefühl gewichen: Rache.

Irgendwie freute sie sich, daß ausgerechnet sie die ändern mit dem Bösen konfrontierte, das auf dem Grund ihrer naiven und scheinbar gütigen Seelen verborgen war. Alle stellten sich vor, ein Verbrechen zu begehen - sie stellten es sich nur vor, denn tun würden sie es niemals. Und dann würden sie sich für den Rest ihres armseligen Lebens vormachen, sie seien eben unfähig gewesen, Unrecht zu tun, weil schließlich der gute Ruf ihres Dorfes davon abhing; im Grunde ihres Herzens aber wüßten sie ganz genau, daß nur die Furcht sie davon abgehalten hatte, einen Unschuldigen zu töten. Und dann würden sie sich allmorgendlich beim Aufstehen selber auf die Schultern klopfen, weil sie ihre Integrität bewahrt hatten, und sich nachts mit Selbstvorwürfen quälen, weil sie die Chance nicht genutzt hatten.

In den nächsten drei Monaten würde das einzige Thema in der Bar die Ehrlichkeit der großherzigen Dorfbewohner sein.

Anschließend, wenn die Jagdsaison eröffnet wurde, würden sie eine Zeitlang das Thema nicht ansprechen, denn die Fremden brauchten nichts davon zu erfahren; sie sollten weiterhin das Gefühl haben dürfen, in Bescos einen paradiesischen Ort gefunden zu haben, wo alle Freunde waren, wo stets das Gute herrschte, wo die Natur großzügig war und selbst die Naturprodukte in dem kleinen »Lädchen« von dieser selbstlosen Liebe durchdrungen waren.

Aber die Jagdsaison würde zu Ende gehen, und sie wären wieder frei, ihre Gedanken weiterzuspinnen. Nachdem sie nächtelang dem verlorenen Geld nachgeweint hätten, würden sie sich die möglichen Szenarien genauer ausmalen - anfangs verschämt, dann reuig und voller Wut: Warum hatte niemand den Mut gehabt, in der Stille der Nacht die alte, unnütze Berthe für den Gegenwert von zehn Goldbarren umzubringen? Warum hatte es keinen Jagdunfall mit Santiago, dem Hirten, gegeben, der jeden Morgen seine Herde in die Berge führte?

Ein Jahr später würden sie sich alle nur noch hassen - der Ort hatte seine Chance gehabt, und sie hatten sie vertan. Sie würden sich fragen, was aus Chantal Prym geworden war, die spurlos verschwunden war, vielleicht mit dem Gold, das sie den Fremden hatte vergraben sehen.

Die Waise, dieses

undankbare Ding, der alle nach dem Tod der Großmutter so geholfen und eine Arbeit in der Bar zugeschanzt hatten, da sie weder einen Mann finden noch weggehen konnte, so würden sie über sie herziehen, diese lose Person, die mit den Hotelgästen - meist älteren Männern - schlief und allen Touristen verführerische Blicke zuwarf, um sich so ein Extratrinkgeld zu erbetteln.

Ein ewiges Hin und Her zwischen Selbstmitleid und Haß, ein Leben lang. Chantal war glücklich, das war ihre Rache. Nie würde sie die Blicke dieser Leute rings um den Lieferwagen vergessen, die ihr Schweigen wegen eines Verbrechens erflehten, das sie niemals zu begehen wagten, um sich dann gegen sie zu wenden, als wäre sie schuld daran, daß diese ganze Feigheit endlich ans Tageslicht kam.

»Jacke. Lederhose. Zwei T-Shirts übereinander anziehen, das Gold um die Taille binden. Jacke. Lederhose. Jacke.«

Und da stand sie nun vor dem y-förmigen Fels. Daneben lag der Ast, mit dem sie zwei Tage zuvor die Erde aufgegraben hatte. Sie genoß einen Augenblick lang die Geste, die sie von einem ehrlichen Menschen zu einer Diebin werden lassen würde.

Nichts dergleichen. Der Fremde hatte sie provoziert, und sie erhielt auch ihre Gegenleistung. Sie stahl nicht, sondern zog ihr Honorar dafür ein, daß sie in dieser Schmierenkomödie als Vermittlerin aufgetreten war. Sie hatte den Goldbarren - und nicht nur einen - verdient, weil sie am Brotwagen den Blicken all dieser Mörder ohne Mord ausgesetzt gewesen war, weil sie ihr ganzes Leben hier vertan und drei schlaflose Nächte verbracht hatte, weil ihre Seele - sofern es eine solche überhaupt gab - jetzt verloren war.

Sie grub in der lockeren Erde und sah den Goldbarren. Als sie ihn sah, hörte sie zugleich etwas.

Jemand war ihr gefolgt. Sie warf automatisch etwas Erde in das Loch, obwohl ihr die Nutzlosigkeit dieser Geste bewußt war.

Wenn der Fremde jetzt hinter ihr stand, dann brauchte sie ihm nur zu sagen, daß sie den Schatz gesucht und die frisch umgegrabene Erde gesehen habe. Als sie sich umwandte, verschlug es ihr die Sprache, denn wer da stand, den interessierten weder Schätze und Dorfkrisen noch der Unterschied zwischen Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit. Ihn interessierte nur Blut.

Er hatte einen weißen Fleck am linken Ohr: der verfluchte Wolf.

Er plazierte sich zwischen sie und den nächsten Baum. Es war unmöglich, an ihm vorbeizukommen. Chantal blieb reglos stehen, wie gebannt von den blauen Augen des Tieres. Ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, sie überlegte ihren nächsten Schritt: einen Ast abreißen - er konnte sie vor einem Angriff des Tieres nicht schützen; auf den y-förmigen Fels klettern - er war zu niedrig; nicht an die Legende glauben, ihn erschrecken, wie sie es mit jedem anderen Wolf getan hätte.

Alles zu riskant, besser sich daran erinnern, daß in allen Legenden eine Wahrheit verborgen ist.

»Strafe.« Eine ungerechte Strafe, ungerecht wie alles, was ihr in ihrem Leben widerfahren war. Gott schien seinen Haß auf die Welt an ihr sichtbar machen zu wollen.

Instinktiv und unendlich langsam legte sie den Ast auf den Boden, schützte ihren Hals mit den Armen. Er durfte sie nicht dort beißen. Sie bereute, daß sie nicht ihre Lederhose trug. Die am nächsten gefährdete Stelle war das Bein, in dem eine Ader verlief, die sie, wenn sie zerrissen wurde, in zehn Minuten verbluten lassen würde. Das behaupteten zumindest die Jäger, die damit ihre hohen Stiefel rechtfertigten.

Der Wolf öffnete das Maul und knurrte. Ein dumpfes, gefährliches Geräusch, das von jemandem kam, der nicht nur drohte, sondern angriff. Sie starrte ihm in die Augen, obwohl ihr das Herz bis zum Hals klopfte, denn jetzt zeigte er seine Zähne.

Es war alles nur eine Frage der Zeit. Entweder griff er an, oder er ging, doch Chantal wußte, daß er angreifen würde. Sie schaute um sich, suchte nach einem lockeren Stein, über den sie stolpern könnte, sah aber keinen. Beschloß dann auf das Tier zuzurennen. Sie würde zwar gebissen werden, aber dennoch zum Baum laufen, während er sich in ihr Bein verbissen hatte. Sie mußte den Schmerz ausblenden.

Sie dachte an das Gold.

Sie dachte, daß sie bald wieder zurückkommen würde, um es zu holen. Sie nährte alle nur möglichen Hoffnungen, alles was ihr Kraft gab, zu ertragen, daß ihr Fleisch von den scharfen Zähnen zerfetzt, der Knochen freigelegt würde und sie möglicherweise stürzte und am Hals angegriffen werden würde.

Kurz vor dem Losrennen sah sie wie im Film in der Ferne jemanden hinter dem Wolf auftauchen.

Das Tier erschnupperte die Anwesenheit eines anderen, wandte aber nicht den Kopf, und Chantal starrte ihn weiter an.

Es war so, als verhinderte einzig die Kraft der Blicke den Angriff.

Wenn jemand gekommen war, hatten sich ihre Überlebenschancen erhöht - auch wenn sie das letztlich ihren Goldbarren kosten würde. Die Gestalt hinter dem Wolf duckte sich schweigend und ging dann nach links. Chantal wußte, daß dort ein anderer Baum stand, der leicht zu erklettern war. Und in diesem Augenblick fiel ein Stein in der Nähe des Tieres nieder. Flugs wandte sich der Wolf um und stürzte in die Richtung, aus der der Stein gekommen war. »Laufen Sie weg!« schrie der Fremde. Sie lief zu ihrem einzigen Zufluchtsort, während der Mann mit ungewöhnlicher Geschicklichkeit auf den anderen Baum kletterte. Als der verfluchte Wolf bei ihm ankam, war er bereits in Sicherheit. Der Wolf begann zu knurren und zu springen, manchmal gelang es ihm, den Stamm etwas hinaufzuklettern, aber er rutschte immer wieder ab. »Reißen Sie ein paar Zweige ab!« schrie Chantal. Doch der Fremde verharrte wie in Trance.