Sie schrie weiter, zweimal, dreimal, ließ nicht locker, bis er endlich begriff. Er begann Zweige abzureißen und sie auf das Tier hinunterzuwerfen.
»Nicht so! Reißen Sie die Zweige ab, bündeln Sie sie, und stecken Sie sie an!« rief sie verzweifelt. »Ich selbst habe kein Feuerzeug, aber tun Sie einfach, was ich Ihnen sage!«
Der Fremde bündelte die Zweige und brauchte eine Ewigkeit, bis er sie angezündet hatte. Alles war klitschnaß vom Unwetter des Vortages, und die Sonne schien in dieser Jahreszeit nicht bis zu dem Baum.
»Jetzt zeigen Sie, daß Sie ein Mann sind«, rief sie. »Steigen Sie vom Baum, halten Sie die Fackel ruhig und richten Sie sie auf den Wolf.«
Der Fremde war wie gelähmt.
»Nun machen Sie schon«, rief sie gebieterisch, und der Mann spürte die Autorität in ihrer Stimme, eine Autorität, die von dem Schrecken herrührte und einer blitzschnellen Reaktionsfähigkeit, die Angst und Schmerz erst mal ausblendete. Die Fackel in der Hand, kletterte er endlich vom Baum, kümmerte sich nicht um die Funken, die sein Gesicht versengten. Er sah die Zähne des Tieres und den Schaum um dessen Maul. Seine Angst wuchs, aber er mußte etwas tun - etwas, was er hätte tun müssen, als seine Frau entführt, seine Töchter getötet worden waren.
»Lassen Sie das Tier nicht aus den Augen!« hörte er die junge Frau sagen.
Er gehorchte. Mit jedem Augenblick wurde alles einfacher, er sah nicht mehr auf die Waffen des Feindes, sondern den Feind in sich. Sie waren gleich stark, gleich fähig, den ändern in Angst und Schrecken zu versetzen.
Er stellte die Füße auf den Boden. Der Wolf wich vor dem Feuer zurück: Er knurrte und sprang immer noch herum, aber er kam nicht näher.
»Greifen Sie ihn an!«
Er ging auf das Tier zu, das noch lauter knurrte, die Zähne zeigte, aber noch weiter zurückwich.
»Verfolgen Sie ihn! Bringen Sie ihn von hier weg!«
Das Feuer brannte jetzt noch stärker, und der Fremde verbrannte sich fast die Hände. Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
Ohne weiter nachzudenken, rannte er, den Blick starr auf die blauen bösen Augen des Tieres gerichtet, auf den Wolf zu. Der hörte auf zu knurren und zu springen, machte einen Satz und war im Wald verschwunden.
Wie der Blitz war Chantal vom Baum herunter, klaubte flink ein paar Zweige vom Boden auf und machte sich auch eine Fackel.
»Schnell weg, kommen Sie!«
»Wohin?«
Wohin? Nach Bescos, wo alle sehen würden, wie sie zusammen kamen? In eine weitere Falle, in der Feuer nichts ausrichten konnte? Sie ließ sich auf den Boden fallen, der Rücken schmerzte höllisch, ihr Herz klopfte wie wild.
»Machen Sie ein Feuer!« wies sie den Fremden an. »Lassen Sie mich nachdenken.«
Sie versuchte sich zu bewegen und stieß einen Schrei aus. Ihr war, als hätte man ihr ein Messer zwischen die Schulterblätter gerammt. Der Fremde sammelte Laub und Äste zusammen und machte ein Feuer. Bei jeder Bewegung wand sich Chantal vor Schmerzen und wimmerte leise. Sie mußte sich ernsthaft verletzt haben, als sie auf den Baum geklettert war.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sie haben sich nichts gebrochen«, sagte der Fremde, als er ihr schmerzverzerrtes Gesicht sah. »Das kenne ich. Wenn der Körper bis ins letzte angespannt ist, ziehen sich die Muskeln zusammen und spielen uns diesen Streich. Soll ich Sie massieren?«
»Rühren Sie mich gefälligst nicht an! Und kommen Sie bloß nicht näher! Schweigen Sie einfach!«
Schmerz, Angst, Scham. Ganz bestimmt hatte er hinter ihr gestanden, als sie das Gold ausgegraben hatte. Er mußte gewußt haben, daß Chantal ihn diesmal bestehlen wollte -sein Dämon kannte sich schließlich aus mit der Seele der Menschen.
So wie er auch wußte, daß in diesem Augenblick der ganze Ort darüber nachdachte, einen Mord zu begehen. Wie sie wußte, daß sie nichts tun würden, weil sie Angst hatten. Doch allein die Absicht genügte als Antwort auf seine Frage: Ja, der Mensch ist im Grund seines Wesens schlecht. Ebenso wie sie wußte, daß sie fliehen würde: Die gestrige Wette galt nicht mehr, er konnte mit seinem unversehrten Schatz und der Bestätigung seiner Vermutungen dahin zurückkehren, woher er gekommen war (woher eigentlich?).
Sie versuchte sich in eine einigermaßen erträgliche Position aufzusetzen, aber es gab keine. Sie durfte sich einfach nicht bewegen. Das Feuer würde den Wolf fernhalten, würde aber bald die Hirten auf sie aufmerksam machen, die in der Gegend umherzogen. Und beide würden zusammen gesehen werden.
Ihr fiel ein, daß Samstag war. Die Leute waren in ihren Häusern voller Nippes und Reproduktionen von berühmten Bildern, Heiligenstatuen aus Gips an den Wänden, versuchten die Zeit herumzubringen - und an diesem Wochenende hatten sie die beste Zerstreuung seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs.
»Reden Sie nicht mit mir!«
»Ich habe doch gar nichts gesagt.« Chantal war zum Weinen zumute, aber vor ihm wollte sie nicht losflennen, und sie beherrschte sich.
»Ich habe Ihnen das Leben gerettet. Ich habe das Gold verdient.«
»Und ich habe Ihnen das Leben gerettet. Der Wolf hätte Sie angegriffen.«
Das stimmte.
»Andererseits glaube ich, daß Sie etwas in mir gerettet haben«, fuhr der Fremde fort.
Ein Trick. Sie würde so tun, als hätte sie es nicht gehört. Das war so etwas wie die Erlaubnis, ihren Schatz zu nehmen, für immer wegzugehen und Schluß, aus.
»Die Wette von gestern. Mein Schmerz war so groß, daß ich unbedingt wollte, daß alle so leiden wie ich. Das sollte mein einziger Trost sein. Sie haben recht.«
Dem Dämon im Fremden gefiel überhaupt nicht, was er hörte.
Er bat Chantals Dämon, ihm zu helfen, aber der war erst kürzlich angekommen und hatte die junge Frau noch nicht ganz unter Kontrolle.
»Ändert das etwas?«
»Gar nichts. Die Wette besteht weiter, und ich weiß, daß ich gewinnen werde. Aber ich begreife, wie elend ich bin, ebenso wie ich begreife, warum ich mich so elend fühle: Ich glaube, ich habe nicht verdient, was mir passiert ist.«
Chantal fragte sich, wie sie dort wegkommen würden. Es war erst Vormittag, aber ewig bleiben konnten sie hier trotzdem nicht.
»Nun, ich finde, daß ich mein Gold verdient habe, und ich werde es nehmen, es sei denn, Sie hindern mich daran«, sagte sie. »Ich rate Ihnen, dasselbe zu tun. Keiner von uns beiden muß nach Bescos zurückkehren. Wir können direkt ins Tal gehen, einen Wagen anhalten, und dann geht jeder seiner Wege.«
»Sie können gehen. Aber in diesem Augenblick beschließen die Bewohner des Ortes, wer sterben wird.« »Das ist schon möglich. Sie werden die nächsten zwei Tage darüber nachdenken, bis die Frist abgelaufen ist. Anschließend werden sie zwei Jahre lang darüber diskutieren, wer das Opfer hätte sein können. Wenn's ans Handeln geht, können sie sich nie entschließen, und wenn's darum geht, den anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben, sind sie unerbittlich. Ich kenne mein Dorf. Wenn Sie nicht zurückkehren, werden sie kein Wort mehr über Sie verlieren. Sie werden glauben, ich hätte mir das alles ausgedacht.«
»Bescos ist genau wie jedes andere Dorf auf der Welt, und was in ihm geschieht, geschieht auf allen Kontinenten, in allen Städten, Lagern, Klöstern, wo auch immer. Aber Sie wollen das nicht begreifen, und auch nicht, daß das Schicksal diesmal zu meinen Gunsten gearbeitet hat: Ich habe mir als Helfer die richtige Person ausgesucht.