Zu seiner Überraschung war an jenem Tag die Kirche so voll, daß ein paar Leute sich sogar um den Altar herumdrängen mußten, weil sonst nicht alle hineingepaßt hätten. Anstatt wie sonst die elektrischen Heizsonnen an der Decke einzuschalten, bat er, die beiden kleinen Seitenfenster zu öffnen, weil die Leute bereits schwitzten. Der Priester fragte sich, ob der Schweiß auf die Hitze oder auf die Anspannung zurückzuführen war, die im Raum herrschte.
Das ganze Dorf war gekommen, außer Chantal Prym, die sich womöglich für ihr Benehmen am Vorabend schämte, und außer Berthe, der alten Hexe, die vermutlich mit der Religion auf Kriegsfuß stand.
»Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes.«
Ein kräftiges Amen ertönte. Der Priester begann mit der Liturgie, sprach den Introitus, bat die übliche Betschwester, die Epistel zu lesen, stimmte feierlich den Psalm der Responsorien an und rezitierte langsam und feierlich das Evangelium. Dann bat er alle, die vor einer Bank standen, sich zu setzen, während die anderen stehen blieben.
Jetzt war die Predigt an der Reihe.
»Im Lukasevangelium kommt ein Mann zu Jesus und fragt ihn:
>Guter Meister, was muß ich tun, damit ich das ewige Leben ererbe?< Jesus aber sprach zu ihm: >Was nennst du mich gut?
Niemand ist gut als Gott allein.< Jahrelang habe ich über diese kurze Textstelle nachgedacht und versucht zu verstehen, was unser Herr gesagt hat: Daß Er nicht gut sei? Daß das ganze Christentum mit seinem Gedanken der Barmherzigkeit auf den Lehren von jemandem fußte, der sich selbst für schlecht hielt?
Bis ich endlich begriff: Christus bezieht sich in diesem Augenblick auf seine menschliche Natur. Als Mensch ist er schlecht. Als Gott ist er gut.«
Der Priester machte eine Pause, damit die Gläubigen die Botschaft verstehen konnten. Der Priester belog sich selber: Er wußte immer noch nicht, was Christus gemeint hatte, denn wäre seine menschliche Natur böse, müßten seine Worte und Handlungen es ebenfalls sein. Doch das war eine theologische Diskussion, die jetzt nicht interessierte. Wichtig war, daß seine Erklärung überzeugend gewesen war.
»Ich werde nicht viele Worte machen. Ich möchte, daß ihr alle versteht, daß es zur Conditio humana gehört zu akzeptieren, daß wir eine niedrige, verderbte Natur haben und nur nicht zur ewigen Strafe verdammt wurden, weil Jesus sich geopfert hat, um die Menschheit zu retten. Ich wiederhole: Das Opfer von Gottes Sohn hat uns errettet. Das Opfer eines einzigen Menschen.
Ich möchte diese Predigt mit einer Stelle aus einem der heiligen Bücher der Bibel beschließen, dem Anfang des Buchs Hiob.
Gott sitzt auf seinem Himmelsthron, als der Dämon daherkommt und ihn anspricht. Gott fragt ihn, wo er gewesen sei. >Ich habe die Erde hin und her durchzogen<, antwortet der Dämon. >Hast du meinen Knecht Hiob gesehen. Hast du gesehen, wie er mich verehrt und all seine Opfer darbringt?< Der Dämon lacht und meint: >Hiob hat alles, warum sollte er da Gott nicht verehren und Opfer bringen? Nimm ihm, was du ihm gegeben hast, und wir werden sehen, ob er den Herrn weiterhin verehren wird.< So fordert der Dämon Gott heraus. Gott nimmt die Wette an. Jahr für Jahr straft Er den, den Er am meisten liebt. Hiob sieht sich vor eine Macht gestellt, die er nicht versteht, die er für die höchste Gerechtigkeit gehalten hat, die ihm aber das Vieh nimmt, die seine Kinder tötet, seinen Körper mit Wunden übersät. Bis Hiob, nachdem er entsetzlich gelitten hat, gegen Gott aufbegehrt und gegen Ihn rechtet. Erst in diesem Augenblick gibt Gott ihm zurück, was er ihm genommen hat.
Seit Jahren erleben wir nun schon den Verfall dieses Ortes.
Und ich frage mich langsam, ob dies nicht eine göttliche Strafe ist, weil wir, ohne aufzubegehren, immer alles hinnehmen, als würden wir es verdienen, den Ort zu verlieren, den wir bewohnen, unsere Weizenfelder, unsere Schafweiden, die Häuser, die nach den Träumen unserer Vorfahren errichtet wurden. Ist vielleicht jetzt der Augenblick gekommen, in dem wir uns auflehnen müssen? Wenn Gott Hiob dazu gezwungen hat, wird Er uns dann nicht ebenso zwingen?
Warum hat Gott Hiob gezwungen, dies zu tun? Um zu beweisen, daß er von Natur aus schlecht war und daß er alles nur aus göttlicher Gnade und nicht aufgrund seines guten Verhaltens bekommen hatte. Wir haben die Sünde begangen, uns für besser zu halten, als wir sind - und für unseren Stolz werden wir jetzt bestraft.
Gott hat die Wette mit dem Satan angenommen. Und Hiob hat seine Lektion gelernt, weil er sich wie wir für einen guten Menschen hielt.
>Niemand ist gut<, sagt der Herr. Niemand. Wir sollten aufhören, eine Güte vorzuspielen, die Gott beleidigt, und sollten unsere Fehler akzeptieren. Wenn es eines Tages notwendig sein sollte, mit dem Dämon eine Wette einzugehen, sollten wir uns daran erinnern, daß unser Gott im Himmel dies getan hat, um die Seele seines Knechtes Hiob zu retten.« Damit endete die Predigt. Der Priester bat alle, sich zu erheben, und fuhr in der Liturgie fort. Er bezweifelte nicht, daß die Botschaft verstanden worden war.
Gehen wir. Jeder in seine Richtung, ich mit meinem Goldbarren, Sie...«
»Meinem Goldbarren«, unterbrach sie der Fremde.
»Sie brauchen nur Ihre Sachen zu nehmen und zu verschwinden. Wenn ich dieses Gold nicht bekomme, muß ich nach Bescos zurück. Mir wird gekündigt, oder die gesamte Bevölkerung wird mich als Lügnerin brandmarken. Das laß ich nicht mit mir machen. Sagen Sie, daß ich diese Bezahlung für meine Arbeit verdient habe.«
Der Fremde erhob sich, nahm ein paar brennende Zweige aus dem Feuer:
»Der Wolf wird immer vor dem Feuer Reißaus nehmen, nicht wahr? Nun, ich werde nach Bescos gehen. Machen Sie, was Sie wollen, stehlen Sie, hauen Sie ab, mich geht das nichts mehr an. Ich habe Wichtigeres zu tun.«
»Moment! Lassen Sie mich hier nicht allein zurück!«
»Dann kommen Sie mit mir!«
Chantal blickte auf das Feuer vor sich, auf den y-förmigen Stein, den Fremden, der sich schon mit seiner improvisierten Fackel entfernte. Sie könnte wie er einfach ein paar Zweige aus dem Feuer nehmen, das Gold ausgraben und damit schnurstracks ins Tal hinuntergehen. Es lohnte sich nicht, nach Hause zu gehen und ihr weniges mühsam Erspartes zusammenzukratzen. In der Stadt am Ende des Tals würde sie das Gold von einer Bank schätzen lassen, es verkaufen und erst mal Kleider und Koffer kaufen. Sie wäre frei und könnte tun und lassen, was sie wollte.
»Warten Sie!« rief sie dem Fremden hinterher. Doch er ging unbeirrt weiter in Richtung Bescos und war nur mehr eine ferne Gestalt.
>Denk nach, schnell<, spornte sie sich an. Sie brauchte nicht lange zu überlegen. Sie zog ein paar Zweige aus dem Feuer, ging zum Stein und grub das Gold wieder aus.
Nahm es, reinigte es mit ihrem Kleid, schaute es zum dritten Mal an.
Panik erfaßte sie, und sie packte ihre brennenden Zweige und rannte hinüber zu dem Weg, den der Fremde genommen hatte.
Der Haß drang ihr aus allen Poren. Sie war am selben Tag zwei Wölfen begegnet, einem, der Angst vor Feuer hatte, und einem anderen, der sich vor nichts mehr fürchtete, weil er bereits alles verloren hatte, was ihm wichtig gewesen war, und der jetzt blind dahinging und alles zerstörte, was er antraf.
Sie lief, so schnell sie konnte, holte ihn aber nicht ein.
Vermutlich stapfte er mittlerweile mit erloschener Fackel durch den Wald, um den Wolf herauszufordern, weil er genauso heiß zu sterben begehrte, wie er töten wollte.
Sie gelangte ins Dorf, überhörte geflissentlich Berthes Rufen am Dorfeingang und bahnte sich einen Weg durch die Menge, die aus der Kirche strömte. Praktisch das ganze Dorf war in die Messe gegangen, wunderte sie sich. Der Fremde wollte ein Verbrechen und bewirkte damit eine volle Kirche und einen vollen Terminkalender für den Priester. Doch konnten sie Gott mit einer Woche der Beichten und der Reue betrügen?
Alle blickten zu ihr hin, doch keiner sprach sie an. Sie wich den Blicken nicht aus, weil sie wußte, daß sie keinerlei Schuld traf, daß sie nicht zur Beichte gehen mußte. Sie war nur das Werkzeug in einem bösartigen Spiel, das sie allmählich zu begreifen begann - und was sie begriff, gefiel ihr ganz und gar nicht.