Sie schloß sich in ihr Zimmer ein und trat ans Fenster. Die Menge hatte sich zerstreut. Für einen sonnigen Samstag wie diesen lag der Dorfplatz nahezu menschenleer da.
Normalerweise standen die Leute in Grüppchen zusammen und unterhielten sich und ließen sich die bereits nur noch winterlich warme Sonne ins Gesicht scheinen. Sie hätten sich übers Wetter unterhalten, über den plötzlichen Temperatursturz, darüber, ob Regen oder Trockenheit drohte. Aber heute blieben sie in ihren Häusern, und Chantal wunderte sich.
Je länger sie auf die Straße schaute, desto näher fühlte sie sich ihnen - ausgerechnet sie, die sich für anders hielt, kühn, voller Pläne, die diesen Bauern nie in den Sinn gekommen wären.
Wie peinlich! Doch auch: welche Erleichterung! Sie war nicht in Bescos, weil das Schicksal ihr übelwollte, sondern weil sie es verdiente und weil sie sich nicht wesentlich von den ändern unterschied. Sie hatte diesen Goldbarren nun schon dreimal ausgegraben, es aber nicht über sich gebracht, ihn mitzunehmen. Sie beging das Verbrechen in ihrem Herzen, konnte es aber nicht in die Tat umsetzen.
Sie durfte es nicht, auf gar keinen Fall, denn dies war mehr als eine Versuchung. Es war eine Falle.
>Warum eine Falle?< überlegte sie. Etwas sagte ihr, daß der Goldbarren die Lösung für das Problem enthielt, das der Fremde geschaffen hatte. Aber worin diese Lösung bestand, blieb ihr verborgen.
Der kürzlich angekommene Dämon sah Chantal von der Seite an und stellte fest, daß Fräulein Pryms Licht, das eben noch hell gestrahlt hatte, jetzt am Verlöschen war. Schade, daß sein Kollege nicht da war, um seinen Sieg zu sehen.
Allerdings wußte er nicht, daß auch die Engel ihre Strategie haben. Denn Chantal Pryms Licht hatte sich absichtlich geduckt, um ihren Feind zu täuschen. Ihr Engel mußte nur warten, bis sie schlief, um mit ihrer Seele Zwiesprache zu halten,
ohne daß Ängste und Schuldgefühle dazwischenfunkten, die die Menschen tagtäglich mit sich herumschleppten.
Chantal schlief ein. Und hörte, was sie hören mußte, begriff, was sie begreifen mußte.
Über Grundstücke und Friedhöfe wollen wir jetzt nicht weiterreden«, begann die Bürgermeistersfrau, sobald sich alle wieder in der Sakristei eingefunden hatten. »Reden wir Klartext!« Die anderen fünf nickten zustimmend.
»Sie haben mich überzeugt, Pater«, sagte der Ländereienbesitzer. »Gott rechtfertigt bestimmte Handlungen.«
»Seien Sie nicht zynisch«, entgegnete der Priester. »Ein Blick aus diesem Fenster genügt, und wir begreifen alles. Deshalb hat der Wind gedreht. Der Dämon ist gekommen und sucht uns heim.«
»Jaja«, pflichtete ihm der Bürgermeister bei, der nicht an Dämonen glaubte. »Das wissen wir bereits. Jetzt aber zur Sache, wir verlieren nur Zeit.«
»Meiner Meinung nach steht es folgendermaßen«, begann die Wirtin. »Wir sind dabei, uns zu überlegen, das Angebot des Fremden anzunehmen. Ein Verbrechen zu begehen.«
»Ein Opfer darzubringen«, korrigierte der Priester, der mit den religiösen Ritualen besser vertraut war.
Die darauf folgende Stille zeigte, daß alle einverstanden waren.
»Nur feige Menschen verstecken sich hinter dem Schweigen.
Laßt uns laut beten, damit Gott uns hört und weiß, daß wir dies zum Besten von Bescos tun. Kniet nieder.«
Widerwillig knieten alle nieder, denn sie wußten, daß es sinnlos war, Gottes Vergebung für eine Sünde zu erbitten, die sie im vollen Bewußtsein begingen, daß sie etwas Böses taten. Aber sie erinnerten sich an Ahabs Tag der Vergebung. Bald schon, wenn sich dieser Tag wieder jährte, würden sie Gott anklagen, sie einer Versuchung ausgesetzt zu haben, der sie kaum widerstehen konnten.
Der Priester lud sie zum gemeinsamen Gebet ein.
»Herr, Du hast gesagt, niemand sei gut. Nimm uns an mit unseren Fehlern, und vergib uns in Deiner unendlichen Güte und Deiner unendlichen Liebe. So wie Du den Kreuzrittern vergeben hast, die die Muselmanen getötet haben, um das Heilige Land zurückzuerobern, so wie Du den Inquisitoren vergeben hast, die die Reinheit Deiner Kirche zu bewahren trachteten, so wie Du all denen vergeben hast, die Dich gekränkt haben und Dich ans Kreuz geschlagen haben, vergib uns, weil wir ein Opfer darbringen und eine Stadt retten müssen.«
»Laßt uns nun zur praktischen Seite kommen«, schlug die Bürgermeistersfrau vor und erhob sich. »Wer wird als Opfer dargebracht? Und wer führt das Opfer durch?«
»Ein Mädchen, dem wir soviel geholfen haben, hat den Dämon an diesen Ort gebracht«, sagte der Ländereienbesitzer, der vor langer Zeit mit ebendiesem Mädchen geschlafen und seither Alpträume hatte, Chantal könnte ihn bei seiner Frau verpetzen.
»Das Böse wird mit Bösem bekämpft, und sie muß bestraft werden.«
Zwei der Anwesenden stimmten zu mit der Begründung, Chantal Prym sei ohnehin nicht vertrauenswürdig, weil sie immer alles anders machen wolle als alle ändern und sich nichts sehnlicher wünsche, als wegzugehen.
»Ihre Mutter ist tot, ihre Großmutter ebenfalls. Sie wird niemandem fehlen«, pflichtete der Bürgermeister bei. Nun waren sie zu dritt, die den Vorschlag guthießen.
Seine Frau war jedoch dagegen: »Gesetzt den Fall, sie weiß, wo der Schatz vergraben liegt. Sie hat ihn schließlich als einzige gesehen. Außerdem können wir ihr gerade deshalb vertrauen, weil sie das Böse in unser Dorf gebracht und uns dazu angestiftet hat, uns überhaupt zu überlegen, ein Verbrechen zu begehen. Sie kann sagen, was sie will.
Schweigen die anderen Dorfbewohner, steht das Wort einer jungen Frau voller Probleme gegen das von uns allen, von Menschen, die es zu etwas gebracht haben.«
Der Bürgermeister wurde unsicher, wie immer, wenn seine Frau anderer Meinung war.
»Ich verstehe«, sagte der Priester. »Die Schuld soll auf das Haupt dessen fallen, der das Drama herbeigeführt hat. Sie wird diese Last bis ans Ende ihrer Tage tragen. Vielleicht endet sie wie Judas, der Jesus Christus verraten und sich in seiner Verzweiflung umgebracht hat, was im Grund sinnlos war, hatte doch Jesus selbst die Voraussetzungen für das Verbrechen geschaffen.« Die Bürgermeistersfrau war erstaunt über den Gedankengang des Priesters, welcher ihrem eigenen genau entsprach. Die junge Frau war hübsch, führte die Männer in Versuchung, wollte nicht so leben wie die anderen in Bescos und hatte ständig etwas auszusetzen, obschon sie in einem Dorf leben durfte, das trotz allem arbeitsame und ehrliche Bewohner hervorbrachte und in dem viele Leute nur allzugern ihr Leben verbringen wollten (Fremde natürlich, die wieder gehen würden, wenn sie herausfänden, wie langweilig es war, ständig in Frieden zu leben).
»Ich sehe sonst niemanden«, sagte die Wirtin, der klar war, daß sie nicht so leicht wieder jemanden finden würde, der in der Bar bediente; doch wenn sie erst das Gold hätte, könnte sie schließlich das Hotel auch schließen und weggehen. »Die Bauern und die Hirten halten treu zusammen, viele haben Kinder, die zwar weit weg wohnen, aber doch eines Tages einen Verdacht hegen könnten, falls ihren Eltern etwas passieren sollte. Chantal Prym ist die einzige, die spurlos verschwinden kann.«
Aus religiösen Gründen - schließlich hatte Jesus die verflucht, die einen Unschuldigen beschuldigt hatten - wollte der Priester niemanden nennen. Aber er wußte, wen er als Opfer vorschlagen wollte, und versuchte nun, dies den ändern indirekt zu suggerieren.
»Die Bewohner von Bescos arbeiten von Sonnenauf- bis Sonnenuntergang, bei Wind und Wetter. Alle haben eine Aufgabe zu erfüllen, auch dieses arme Wesen, das der Dämon für seine bösen Zwecke erwählt hat. Wir sind nur noch wenige und können es uns nicht leisten, noch eine Arbeitskraft zu verlieren.«