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>Damit sich die Schrift erfüllt<, würden die Kirchenväter sagen.

Aber dennoch, weshalb stiftete Jesus einen Menschen zur Sünde an und bewirkte damit für ihn ewige Verdammnis?

Jesus würde dies niemals tun. In Wahrheit war der Verräter nur ein Opfer, so wie Er selber. Das Böse mußte sich zeigen und seine Rolle spielen, damit das Gute am Ende siegen konnte.

Ohne Verrat würde es das Kreuz nicht geben, die Schrift würde nicht erfüllt, das Opfer nicht als Beispiel dienen.

Tags darauf war ein Fremder in die Stadt gekommen, wie so viele andere, die kamen und gingen. Der Priester hatte dem keine Bedeutung beigemessen und ihn ebenso wenig mit der Bitte in Zusammenhang gebracht, die er an Jesus gerichtet, oder mit dem Satz, den er gelesen hatte. Als er die Geschichte über die Modelle gehört hatte, die Leonardo da Vinci benutzt hatte, um das >Abendmahl< zu malen, erinnerte er sich, daß er einen Text zum selben Thema in der Bibel gelesen hatte, tat es aber als Zufall ab.

Erst als Chantal Prym den Vorschlag unterbreitete, begriff er, daß seine Bitte erhört worden war.

Das Böse mußte sich zeigen, damit er endlich das Herz der Bewohner rühren konnte. Erstmals seit seiner Ankunft in Bescos war seine Kirche zum Bersten voll gewesen. Und erstmals waren die Honoratioren des Dorfes zu ihm in die Sakristei gekommen. >Das Böse mußte sich zeigen, um den Wert des Guten zu verstehen.< So wie dem Verräter in der Bibel, der nach vollbrachter Tat begriff, was er angerichtet hatte, würde es auch diesen Leuten ergehen. Sie würden ihre Tat so sehr bereuen, daß sie in der Kirche Zuflucht suchen und nach all den Jahren zu frommen, gottesfürchtigen Menschen würden.

Ihm war die Rolle zugedacht worden, ein Werkzeug des Bösen zu sein. Das war die tiefste Demut, die er Gott darbieten konnte.

Der Bürgermeister kam zur verabredeten Stunde. »Ich möchte wissen, was ich sagen soll.«

»Lassen Sie nur, ich selber werde die Versammlung leiten«, war die Antwort.

Der Bürgermeister zögerte. Schließlich war er die höchste Instanz in Bescos, und er sah es nicht gern, wenn ein Auswärtiger sich in wichtige lokale Angelegenheiten einmischte.

Obwohl der Priester bereits mehr als zwanzig Jahre im Ort lebte, war er nicht hier geboren, kannte er nicht alle Geschichten, floß in seinen Adern nicht Ahabs Blut.

»Ich denke, so schwerwiegende Dinge sollte ich selber direkt mit der Bevölkerung klären«, wandte er daher ein.

»Einverstanden. Um so besser, denn es kann schiefgehen, und ich möchte nicht, daß die Kirche darin verwickelt ist. Ich werde Ihnen meinen Plan erklären, und Sie übernehmen es, ihn publik zu machen.«

»Wenn ich es mir recht überlege, glaube ich, daß Sie Ihren Plan doch lieber selber vertreten sollten.«

>Immer die Angst<, dachte der Priester. >Um einen Menschen zu beherrschen, mußt du nur dafür sorgen, daß er Angst hat.< Die beiden Frauen kamen kurz vor neun Uhr bei Berthes Haus an und fanden sie in ihrem kleinen Wohnzimmer, wo sie in ihrem Sessel saß und strickte.

»Das Dorf ist heute abend so anders«, sagte die alte Frau. »Ich habe viele Menschen vorbeigehen hören, das Geräusch vieler Schritte. Ist die Bar nicht etwas zu klein für diesen großen Andrang?«

»Das waren die Männer«, antwortete die Wirtin. »Sie sind alle auf den Platz gegangen, um darüber zu diskutieren, was mit dem Fremden geschehen soll.«

»Ich verstehe. Ich glaube, da ist nicht viel zu diskutieren: Entweder nimmt man seinen Vorschlag an, oder man läßt ihn in zwei Tagen ziehen.«

»Es kommt nicht in Frage, daß wir sein Angebot annehmen«, empörte sich die Bürgermeistersfrau.

»Warum denn nicht? Mir wurde erzählt, daß der Priester heute eine hervorragende Predigt gehalten hat, in der er davon sprach, daß das Opfer eines einzigen Menschen die Menschheit errettet, daß auch Gott die Wette eines Dämons angenommen und am Ende seinen treuesten Diener bestraft hat. Was ist falsch daran, wenn die Bewohner von Bescos beschließen, den Vorschlag - sagen wir - als ein Geschäft zu betrachten?«

»Das meinen Sie doch nicht im Ernst?«

»Und ob ich das ernst meine. Ihr versucht doch alle nur, mich hinters Licht zu führen.«

Die beiden Frauen überlegten, ob sie aufstehen und gehen sollten. Aber das war riskant.

»Außerdem: Wem verdanke ich die Ehre dieses Besuches?

Das ist sonst noch nie vorgekommen.«

»Chantal Prym hat vor zwei Tagen den verfluchten Wolf heulen hören.«

»Wir wissen doch alle, daß der verfluchte Wolf eine dumme Ausrede des Schmieds war«, sagte die Wirtin. »Er wird mit irgendeiner Frau aus dem Nachbardorf in den Wald gegangen sein, und als er versuchte, sie aufs Kreuz zu legen, hat sie sich gewehrt, und da mußte er diese Geschichte aus dem Hut zaubern, um seine blauen Flecken zu erklären. Wie auch immer: Wir wollten schon immer einmal vorbeikommen, um nach dem Rechten zu sehen.« »Alles ist vollkommen in Ordnung. Ich stricke eine Decke, obschon ich nicht weiß, ob ich sie fertig kriege, wo ich doch schon morgen sterben kann.«

Peinliche Stille.

»Alte Menschen sterben oft ganz plötzlich«, fuhr Berthe fort.

Die beiden Besucherinnen seufzten erleichtert auf.

»Daran müssen Sie doch noch nicht denken.«

»Mag sein. Sehen wir, was der nächste Tag bringt. Dennoch hat mich das heute stark beschäftigt.«

»Gab es dazu einen Anlaß?«

»Brauche ich denn einen?«

>Schleunigst das Thema wechseln<, dachte die Wirtin, >so unauffällig wie möglich.< Inzwischen mußte die Versammlung auf dem Platz begonnen haben. Hoffentlich dauerte sie nicht zu lange. Laut sagte sie: »Ich glaube, je älter man wird, desto klarer sieht man, daß der Tod unausweichlich ist. Und wir müssen lernen, ihm gelassen, weise und demütig entgegenzusehen: Häufig erlöst er uns von unnötigem Leid.«

»Sie haben recht«, antwortete Berthe. »Genau das habe ich heute abend auch gedacht. Und wissen Sie, zu welcher Schlußfolgerung ich gekommen bin? Ich habe Angst, große Angst vor dem Sterben. Ich glaube, meine Stunde ist noch nicht gekommen.«

Die Atmosphäre wurde immer drückender, und die Bürgermeistersfrau mußte an die Diskussion in der Sakristei denken, als die Rede vom Friedhof war und doch alle in Wahrheit etwas anderes meinten. Sie hätte zu gern gewußt, wie sich die Versammlung auf dem Platz anließ, was der Priester vorhatte und wie die Männer von Bescos darauf reagieren würden. Wozu Berthe zu einem offeneren Gespräch animieren? Niemand läßt sich so mir nichts, dir nichts und ohne sich bis zum letzten zu wehren umbringen. Ja, wenn sie diese Frau töten wollten, mußte es möglichst kampflos abgehen und ohne Spuren, die im Fall einer Autopsie Verdacht erregen könnten. Verschwinden. Diese Alte mußte einfach verschwinden. Ihre Leiche durfte weder auf dem Friedhof landen noch im Wald verscharrt werden. Sobald der Fremde den Beweis für das von ihm verlangte Verbrechen hätte, mußten sie sie verbrennen und ihre Asche in den Bergen ausstreuen.

»Woran denken Sie?« unterbrach Berthe ihre Gedanken.

»An ein Feuer«, antwortete die Bürgermeistersfrau. »An ein schönes Feuer, das unsere Körper und unsere Herzen erwärmt.«

»Wie gut, daß wir nicht mehr im Mittelalter leben! Wußten Sie, daß so mancher im Dorf mich für eine Hexe hält?«

Das ließ sich nun nicht bestreiten, ohne daß die Alte mißtrauisch wurde. Die beiden Frauen nickten.

»Wären wir noch im Mittelalter, könnte man mich einfach verbrennen - einfach so, als Sündenbock für was weiß ich.«

>Was ist bloß in sie gefahren?< überlegte die Wirtin. >Hat uns jemand verraten? Ist die Bürgermeistersfrau etwa schon vorher hiergewesen und hat ihr alles erzählt? Hat der Priester etwa seinen Vorschlag bereut und einer Sünderin alles gebeichtet?<

»Na, dann danke ich euch für euren Besuch. Ich hoffe, ihr seid beruhigt: Mir geht es gut, ich bin quicklebendig und kerngesund, und wenn nötig opfere ich mich sogar und mache eine dieser idiotischen modernen Diäten zur Cholesterinsenkung. Mit anderen Worten: Ich lebe gern noch ein Weilchen.«