Berthe erhob sich, öffnete die Tür und verabschiedete sich von ihren Besucherinnen.
»Ich habe mich gefreut, daß ihr gekommen seid. Ich werde jetzt schlafen gehen, an der Decke kann ich morgen weiterstricken.
Und ehrlich gesagt glaube ich an den verfluchten Wolf. Also, paßt gut auf euch auf! Und bis bald!«
Und damit schloß sie die Tür.
»Sie weiß Bescheid!« flüsterte die Wirtin der Bürgermeistersfrau zu. »Jemand muß es ihr gesteckt haben!
Haben Sie nicht die Ironie in ihrer Stimme bemerkt? Sie hat genau gemerkt, daß wir nur hier waren, um ein Auge auf sie zu haben.«
»Das kann sie doch gar nicht«, flüsterte die Bürgermeistersfrau völlig verstört zurück. »Keiner wäre so verrückt, ihr alles zu sagen. Es sei denn...«
»Es sei denn was?«
»Es sei denn, sie ist tatsächlich eine Hexe. Erinnern Sie sich an den Wind in der Sakristei?«
»Ja, bei geschlossenen Fenstern.«
Den beiden Frauen wurde bang ums Herz, und jahrhundertealter Aberglaube kam wieder hoch. Wenn sie wirklich eine Hexe war, würde Berthes Tod den Ort nicht retten, sondern ihn am Ende vollkommen zerstören.
Das sagten die Legenden.
Berthe löschte das Licht und spähte durch einen Spalt in der Gardine hinaus zu den beiden Frauen. Sie wußte nicht, sollte sie lachen oder weinen oder sich nur einfach in ihr Schicksal schicken. Nur eines wußte sie ganz sicher: Sie war dazu erwählt, zu sterben.
Ihr Mann war ihr am späten Nachmittag erschienen, und zu ihrer Überraschung kam er in Begleitung von Chantal Pryms Großmutter. Im ersten Moment gab es Berthe einen Stich: Was hatte er mit dieser Frau zu schaffen? Aber dann sah sie die Sorge im Blick der beiden und wurde ganz verzweifelt, als die beiden ihr von dem Treffen in der Sakristei erzählten und sie inständig drängten, sofort zu fliehen.
»Ihr macht doch hoffentlich Witze«, wiegelte Berthe ab. »Wie soll ich denn fliehen? Meine Beine tragen mich ja schon kaum die hundert Meter bis zur Kirche, wie soll ich da davonrennen und mich irgendwo verstecken? Findet ihr bitte dort oben eine Lösung für mein Problem und beschützt mic h! Wozu habe ich ein Leben lang zu allen Heiligen gebetet?«
Die Situation sei komplizierter, als Berthe sie sich vorstelle, erklärten sie: Es gehe um einen Kampf zwischen Gut und Böse, in den niemand eingreifen könne. Engel und Dämonen lieferten sich eine ihrer periodischen Schlachten, die ganze Regionen für eine bestimmte Zeitspanne verdammen oder retten konnten.
»Das interessiert mich nicht. Ich weiß nicht, wie ich mich verteidigen soll. Dieser Kampf ist nicht meiner, ich will mich nicht daran beteiligen.«
Keiner hatte es gewollt. Alles hatte damit angefangen, daß ein Schutzengel durcheinandergeriet. Eine Frau war mit ihren beiden Töchtern entführt worden. Die Tage der Frau und ihrer älteren Tochter waren schon gezählt, aber die dreijährige Jüngste sollte gerettet werden, ihren Vater über den Verlust der Frauen hinwegtrösten und ihm ermöglichen, weiter ans Leben zu glauben. Er war ein rechtschaffener Mann und würde, obwohl er sich schrecklich grämte, gemäß Gottes unerforschlichem Ratschluß am Ende über die Tragödie hinwegkommen. Das Mädchen würde mit diesem Trauma aufwachsen und mit zwanzig ihre eigene Leidenserfahrung dazu verwenden, das Leid anderer zu lindern. Ihr wohltätiges Werk würde in die ganze Welt hinausgetragen.
Das war der ursprüngliche Plan. Und alles lief gut: Die Polizei stürmte das Versteck der Entführer, eröffnete das Feuer, und diejenigen, denen an diesem Tag zu sterben bestimmt war, kamen dabei zu Tode. In diesem Augenblick machte der Schutzengel des kleinen Mädchens - das wie alle Dreijährigen ständig mit seinem Schutzengel in Kontakt stand - diesem ein Zeichen, an die Wand zurückzuweichen. Doch das Mädchen deutete das Zeichen falsch und ging statt dessen auf ihn zu.
Zwei Schritte - dreißig Zentimeter - genügten, um tödlich getroffen zu werden. Von diesem Augenblick an nahm die Geschichte eine andere Wende. Was sich in eine schöne Geschichte der Erlösung verwandeln sollte, wurde zu einem Kampf ohne Atempause. Der Dämon trat auf den Plan, forderte die Seele des Vaters, die voll ohnmächtigem Haß und Rachegelüsten war. Die Engel wollten das nicht zulassen. Er war ein guter Mann und dazu auserwählt, seiner Tochter dabei zu helfen, vieles in der Welt zu verändern, auch wenn er von Berufs wegen nicht gerade dazu prädestiniert schien. Doch seine Ohren blieben taub gegen die Beschwörungen der Engel. Und ganz allmählich bemächtigte sich der Dämon seiner Seele, bis er sie fast ganz und gar beherrschte.
»Fast ganz und gar«, wiederholte Berthe. »Wieso fast?«
Ja, fast, denn ein kleiner Lichtschimmer blieb, weil einer der Engel sich weigerte, den Kampf aufzugeben. Ein Engel, der noch niemandem aufgefallen war, bis er sich in der vergangenen Nacht durch Chantal Prym ein wenig Gehör verschafft hatte.
Darum sei sie hier, erklärte Chantals Großmutter. Wenn überhaupt jemand helfen konnte, dann ihre Enkelin. Doch der Kampf sei grimmiger denn je und der Engel des Fremden erneut in Gefahr, von seinem Dämon unterdrückt zu werden.
Berthe versuchte die beiden zu beruhigen, die sehr nervös wirkten. Als Tote hätten sie schließlich nichts zu befürchten, ganz im Gegensatz zu ihr. Warum denn nicht sie Chantal helfen könnten, alles zu ändern?
Chantals Dämon sei gerade dabei, die Oberhand zu gewinnen, antworteten sie. Vorhin im Wald habe die Großmutter ihrer Enkelin den verfluchten Wolf geschickt - den gab es wirklich, und der Schmied sagte die Wahrheit. Sie wollte die Güte im Mann wecken, und es war ihr auch gelungen. Aber offensichtlich war das Gespräch zwischen den beiden nicht weiter gediehen. Beide waren zu starke Persönlichkeiten. Es blieb nur noch eine letzte Chance: Daß die junge Frau endlich sah, was sie sie sehen machen wollten. Oder vielmehr, da sie wußten, daß sie es bereits gesehen hatte: daß sie es verstand.
»Was denn?« fragte Berthe.
Das durften sie ihr nicht sagen. Der Kontakt mit den Lebenden hatte seine Grenzen, einige Dämonen paßten genau auf das auf, was sie sagten, und könnten alles zunichte machen, wenn sie den Plan schon vorher kannten. Es sei aber etwas ganz Einfaches, und Chantal, wenn sie so pfiffig war, wie ihre Großmutter behauptete, würde die Situation schon in den Griff bekommen. Berthe drang nicht weiter in sie. Es lag ihr fern, um eine Indiskretion zu bitten, die ihr das Leben kosten konnte, obwohl sie sehr gern Geheimnisse hörte. Dennoch fehlte da eine Erklärung, und sie wandte sich an ihren Mann:
»Du hast gesagt, ich soll hier all diese Jahre auf diesem Stuhl sitzen und auf den Ort achtgeben, weil das Böse hier hereinkommen könnte. Das war lange bevor der Engel ein mißverständliches Zeichen gab und das kleine Mädchen getötet wurde. Wieso?«
Ihr Ehemann antwortete, daß das Böse so oder so nach Bescos gekommen wäre, da es auf Erden seine Runde zu machen pflege und die Menschen gern unvorbereitet packe.
»Das überzeugt mich nicht.«
Das war Berthes Mann auch nicht. Trotzdem war es die Wahrheit. Das Duell zwischen Gut und Böse, sagte er, fände eben im Herzen eines jeden Menschen statt, dem eigentlichen Schlachtfeld aller Engel und Dämonen; dort kämpften sie seit Jahrtausenden um jede Handbreit Terrain, bis einer der Kontrahenten den anderen vollkommen vernichtet hätte.
Allerdings gebe es, obwohl er sich bereits auf der spirituellen Ebene befinde, immer noch viele Dinge, die er nicht wisse - viel mehr übrigens als auf Erden.
»Das ist überzeugender. Macht euch keine Sorgen. Wenn ich sterben soll, dann nur, weil meine Stunde gekommen ist.«
Unter dem Vorwand, sie müßten das Mädchen dazu bringen, richtig zu verstehen, was sie gesehen hatte, gingen die beiden davon. Berthe ließ ihren Mann ungern ziehen, zumal sie etwas eifersüchtig war auf seine Begleiterin, die einstmals eine der begehrtesten Frauen in Bescos gewesen war. Doch sie wußte, daß er auf sie aufpaßte und daß es sein größter Wunsch war, daß sie das Leben noch lange genießen konnte.