Als sie die Frauen draußen stehen sah, fand sie es trotz allem erstrebenswert, noch ein bißchen in diesem Tal zu verweilen, den Blick auf die Berge zu genießen, die ewigen Konflikte zwischen Männern und Frauen mitzubekommen, zwischen den Bäumen und dem Wind, den Engeln und den Dämonen. Noch ehe die Versammlung auf dem Platz beendet war, schlummerte Berthe bereits ein. Sie war zuversichtlich, daß Chantal Prym zu guter Letzt die Botschaft schon verstehen würde, obwohl sie nicht wie sie die Gabe hatte, mit den Seelen der Toten Zwiesprache zu halten.
>Morgen will ich unbedingt in einer anderen Farbe weiterstricken<, nahm sich Berthe vor, ehe sie einschlief.
In der Kirche, auf geheiligtem Boden, habe ich von der Notwendigkeit eines Opfers gesprochen«, sagte der Priester.
»Hier auf weltlichem Boden bitte ich euch, zum Martyrium bereit zu sein.«
Auf dem kleinen Platz mit seinem trüben Licht, das von einer einzigen Laterne herrührte (zu mehr hatte es, allen Wahlversprechungen des Bürgermeisters zum Trotz, bisher nicht gereicht), standen die Bauern und Hirten dicht gedrängt; sie sahen müde aus, denn sie waren gewohnt, mit der Sonne ins Bett zu gehen und mit ihr aufzustehen. Alles verharrte in respektvollem und angstvollem Schweigen. Der Priester hatte neben das Kreuz einen Stuhl gestellt, auf den er jetzt stieg, damit ihn alle sehen konnten.
»Jahrhundertelang wurde die Kirche angeklagt, ungerechte Kämpfe geführt zu haben, während sie in Wahrheit nur versuchte, die Anfeindungen zu überleben.«
»Wir sind nicht hergekommen, um etwas über die Kirche zu hören, Pater«, rief eine Stimme. »Wir wollen wissen, was mit Bescos los ist.«
»Ich brauche euch nicht zu sagen, daß Bescos davon bedroht ist, von der Landkarte zu verschwinden, samt euren Ackern und euren Herden. Ich bin auch nicht hier, um über die Kirche zu sprechen, aber eines muß ich doch sagen: Nur durch Opfer und Buße können wir errettet werden. Und bevor ihr mich weiter unterbrecht: Ich spreche von der Opferung von einem unter uns und der Buße aller und der Errettung der Stadt.«
»Wer sagt uns, daß er nicht lügt?« rief eine Stimme dazwischen. »Morgen wird uns der Fremde das Gold zeigen«, sagte der Bürgermeister zufrieden, weil er mehr wußte als der Priester.
»Chantal Prym will die Verantwortung nicht allein tragen, und die Wirtin hat ihn überredet, die Goldbarren herzubringen. Ohne diese Garantie tun wir nichts.«
Dann begann der Bürgermeister von all den Verbesserungen zu reden, die er in der Stadt durchführen wollte, dem Kinderspielplatz, der Steuersenkung, der Verteilung des Goldes unter die einzelnen Bürger.
»Zu gleichen Teilen«, sagte jemand.
Die Stunde war gekommen, in der er Farbe bekennen mußte.
Alle Augen waren auf ihn gerichtet und wirkten plötzlich hellwach.
»Zu gleichen Teilen«, bestätigte der Priester, ehe der Bürgermeister reagieren konnte. Sie hatten keine Wahl.
Entweder trugen alle die gleiche Verantwortung und erhielten alle die gleiche Belohnung, oder sonst würde über kurz oder lang jemand das Verbrechen anzeigen - aus Neid oder aus Rache. Beides hatte der Priester am eigenen Leib zu spüren bekommen.
»Wer wird sterben?«
Der Bürgermeister erklärte genau, wie die Wahl auf Berthe gefallen war. Ihr Mann war tot, und er fehlte ihr sehr, sie hatte keine Freunde, auch war sie alt, nicht mehr richtig im Kopf und saß von morgens bis abends tatenlos vor ihrem Haus. Ihr Erspartes hatte sie auf eine Bank in der Stadt gebracht, anstatt es in Ländereien oder Schafe in Bescos zu investieren; die einzigen, die etwas davon hatten, waren die Händler, die wie der Lieferwagen mit dem Brot wöchentlich im Ort erschienen, um ihre Produkte zu verkaufen.
Aus der Menge erhob sich keine einzige Gegenstimme. Der Bürgermeister war zufrieden. Seine Autorität blieb unangetastet. Der Priester wußte jedoch, daß dies ein gutes oder ein schlechtes Zeichen sein konnte, weil Schweigen nicht zwingend Zustimmung bedeutete, sondern oft nur die Unfähigkeit, sofort zu reagieren. Es war nicht ausgeschlossen, daß jemand dagegen war und sein stillschweigendes Einverständnis bald bereute. Nicht auszudenken, was dann geschehen konnte.
»Es müssen alle einverstanden sein«, sagte der Priester. »Ich möchte, daß ihr laut sagt, ob ihr einverstanden seid oder nicht, damit Gott es hört und weiß, daß es in Seinem Heer tapfere Männer gibt. Wenn ihr nicht an Gott glaubt, bitte ich euch dennoch, laut eure Stimme abzugeben, damit jeder genau weiß, was der andere denkt.«
Dem Bürgermeister gefiel die Art nicht, wie der Priester »ich möchte« gesagt hatte statt »wir möchten« oder »der Bürgermeister möchte«. Wenn diese Angelegenheit ausgestanden war, würde er seine Autorität auf Teufel komm raus zurückerobern. Jetzt ließ er als guter Politiker den Priester handeln und sich die Finger verbrennen.
»Ich will, daß ihr zustimmt.«
Das erste »Ja« kam vom Schmied. Der Bürgermeister stimmte, um seinen Mut zu zeigen, ebenfalls mit lauter Stimme zu. Einer nach dem anderen gaben die versammelten Männer ihr Einverständnis - bis alle sich verpflichtet hatten.
Einige hatten zugestimmt, weil sie dann schneller nach Hause gehen konnten; andere dachten an das Gold und wie sie so schnell wie möglich aus Bescos abhauen konnten; einige hatten vor, ihren Kindern Geld zu schicken, damit sie sich vor ihren Freunden in der Stadt nicht mehr zu schämen brauchten.
Keiner der Anwesenden glaubte indes, daß Bescos dank dem Gold seinen verlorenen Glanz wiedererlangen könnte, sie wollten nur den Reichtum haben, den sie immer verdient, aber nie bekommen hatten.
Keiner hatte den Mut, nein zu sagen.
»In dieser Stadt leben hundertacht Frauen und hundert-dreiundsiebzig Männer«, fuhr der Priester fort. »Jeder männliche Einwohner hat mindestens eine Waffe, denn schließlich will die Tradition des Ortes, daß jeder das Jagen erlernt. Nun, morgen früh werdet ihr diese Waffen mit jeweils einer Kugel in die Sakristei bringen. Ich bitte den Bürgermeister, der mehr als ein Gewehr im Haus hat, eins für mich mitzubringen.«
»Wir geben unsere Waffen niemals in fremde Hände«, rief ein Förster. »Sie sind heilig, launisch, persönlich.«
»Laßt mich ausreden und euch erklären, wie ein Erschießungskommando funktioniert: Sieben Soldaten wird befohlen, auf einen zum Tode Verurteilten zu schießen. Sieben Gewehre werden an die Soldaten ausgegeben - sechs davon sind mit echten Kugeln geladen, und eines enthält nur eine Platzpatrone. Das Pulver explodiert genau wie bei den anderen, der Lärm ist der gleiche, aber es ist kein Blei darin, das auf den Körper des Opfers abgefeuert wird. Keiner der Soldaten weiß, welches Gewehr mit der Platzpatrone geladen ist. So glaubt jeder, es wäre seines und daß die ändern für den Tod des Verurteilten verantwortlich sind, den sie nicht kannten, den sie aber töten mußten.«
»Alle halten sich für unschuldig«, sagte der Besitzer der Ländereien, der bislang geschwiegen hatte.
»Genau. Morgen werde ich aus 87 Patronen das Blei entfernen und in den anderen Gewehren die echte Munition belassen.
Wenn ihr dann schießt, könnt ihr nicht wissen, welche Waffen Projektile enthielten und welche nicht. So kann sich jeder von euch für unschuldig halten.«
Die müden Männer begrüßten den Vorschlag des Priesters mit einem Seufzer der Erleichterung. Alle strafften wie gestärkt ihre Schultern, und es war, als hätte die Geschichte ihre Tragik verloren und gelte nur noch der Jagd nach einem verborgenen Schatz. So konnte jeder sich in der Gewißheit wiegen, daß sein Gewehr nur eine Platzpatrone enthielt und er somit unschuldig war - aber mit denen solidarisch, die ihr Leben verändern und gemeinsam am gleichen Strick ziehen wollten. Bescos war eben trotz allem ein Ort, in dem ein neuer Wind wehen konnte.