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»Genau das möchte ich gern herausbekommen: ob wir im Paradies oder in der Hölle leben«, unterbrach der Mann ihre Gedanken.

Gut, er schien in die Falle zu gehen.

»Im Paradies. Aber wer lange an einem vollkommenen Ort gelebt hat, der langweilt sich am Ende.«

Sie hatte den ersten Köder ausgeworfen. Hatte mit anderen Worten gesagt: »Ich bin frei, stehe zur Verfügung.« Seine nächste Frage mußte nun lauten: »Wie Sie?«

»Wie Sie?« wollte der Fremde wissen.

Sie mußte vorsichtig sein, nicht zu durstig zum Brunnen gehen, sonst könnte sie den Mann verschrecken.

»Ich weiß nicht. Manchmal kommt es mir so vor, manchmal denke ich, mein Schicksal liegt hier und ich könnte überhaupt nicht fern von Bescos leben.«

Der nächste Schritt: Gleichgültigkeit vortäuschen.

»Nun, da Sie mir nichts weiter über das Gold erzählen wollen, das Sie mir gezeigt haben, kann ich zu meinem Bach und meinem Buch zurückkehren. Vielen Dank für den Spaziergang.«

»Einen Augenblick!«

Der Mann hatte angebissen.

»Selbstverständlich werde ich Ihnen erzählen, was es mit dem Gold auf sich hat. Warum hätte ich Sie sonst hierhergebracht?«

Sex, Geld, Macht, Versprechen. Aber Chantal tat so, als erwartete sie eine überraschende Enthüllung. Die Männer empfinden eine seltsame Lust darin, überlegen zu sein, wobei sie in den meisten Fällen nicht wissen, daß sie sich absolut vorhersehbar verhalten.

»Sie scheinen ein Mann mit viel Lebenserfahrung zu sein, jemand der mir viel beibringen kann.« Genau. Das Seil etwas lockern, etwas Lob spenden, um die Beute nicht zu erschrecken, das war eine wichtige Regel.

»Allerdings haben Sie die schlechte Angewohnheit, anstatt eine einfache Antwort zu geben, lange Reden über Versprechen zu halten oder darüber, wie wir uns im Leben verhalten sollten. Ich bleibe sehr gern, aber erst einmal müssen Sie mir die Fragen beantworten, die ich Ihnen gleich zu Anfang gestellt habe: Wer sind Sie? Und was machen Sie hier?«

Der Fremde wandte den Blick von den Bergen ab und sah das Mädchen direkt an. Er hatte viele Jahre mit allen möglichen Arten von Menschen gearbeitet und wußte mit fast hundertprozentiger Gewißheit, was sie dachte. Sie würde bestimmt glauben, er habe ihr das Gold gezeigt, um ihr mit seinem Reichtum zu imponieren, während sie ihrerseits versuchte, ihn mit ihrer Jugend und Gleichgültigkeit zu beeindrucken.

»Wer ich bin? Nun, sagen wir, ich bin ein Mann, der bereits seit einiger Zeit auf der Suche nach einer bestimmten Wahrheit ist.

In der Theorie habe ich sie gefunden, sie aber noch nie in die Tat umgesetzt.«

»Was für eine Art Wahrheit?«

»Sie betrifft die Natur des Menschen. Ich habe herausgefunden, daß wir, wenn wir in Versuchung geführt werden, ihr am Ende erliegen. Alle Menschen auf Erden sind bereit, Böses zu tun, es hängt nur von den Umständen ab.«

»Ich glaube...«

»Es geht nicht darum, was Sie oder ich glauben oder was wir glauben wollen, sondern darum, herauszufinden, ob meine Theorie stimmt. Sie wollen wissen, wer ich bin? Ich bin ein sehr reicher, sehr bekannter Industrieller, ich bestimme über Tausende von Angestellten, war hart, wenn es sein mußte, und menschlich, wenn ich es für notwendig erachtete.

Ich bin jemand, der Dinge erlebt hat, die sich andere nicht einmal träumen lassen. Ich habe durchaus sowohl Lust als auch Wissen jenseits der festgelegten Grenzen gesucht: Ich bin ein Mann, der das Paradies kennengelernt hat, als er glaubte, in der Hölle der Routine und der Familie gefangen zu sein, und der die Hölle kennenlernte, sobald er das Paradies und die vollkommene Freiheit genießen konnte. Das bin ich, ein Mann, der ein Leben lang böse und gut war und vielleicht am besten selber meine Frage nach dem, was den Menschen in seinem Innersten ausmacht, beantworten könnte - und deshalb bin ich hier. Ich weiß, was Sie jetzt wissen wollen.«

Chantal spürte, daß Sie an Boden verlor. Sie mußte ihn schnell zurückerobern.

»Sie glauben, ich würde Sie jetzt fragen: Warum haben Sie mir das Gold gezeigt? Aber ehrlich gesagt, wüßte ich gern, warum ein reicher und dazu noch bekannter Industrieller ausgerechnet nach Bescos kommt, um eine Antwort zu finden, die er in Büchern, Universitäten oder einfach dadurch finden könnte, daß er einen Philosophen anstellt.«

Der Fremde freute sich über die Pfiffigkeit des Mädchens. Wie gut, er hatte die richtige Person ausgewählt - wie immer.

»Ich bin nach Bescos gekommen, weil ich einen Plan habe. Vor langer Zeit hab ich ein Theaterstück eines Autors namens Dürrenmatt gesehen, den Sie gewiß kennen...«

Diese Bemerkung war als Provokation gedacht. Natürlich hatte dieses junge Mädchen noch nie den Namen Dürrenmatt gehört und würde wieder blasiert tun, so als wüßte sie, wer das war.

»Ja, und«, sagte Chantal gespielt gleichgültig.

»Es freut mich, daß Sie ihn kennen, ich will Ihnen aber auch sagen, welches seiner Stücke ich meine.« Er wählte seine Worte mit Bedacht, so daß sie nicht übermäßig ironisch klangen, aber doch klarmachten, daß er wußte, daß sie log.

»Es geht darin um eine alte Dame, die als reiche Frau in ihre Heimatstadt zurückkehrt, um sich an ihrem einstigen Liebhaber zu rächen, der sie abgewiesen hatte, als sie noch ein junges Mädchen war. Ihr ganzes Leben, ihre Ehen, ihr finanzieller Aufstieg hatten nur dem einen Ziel gegolten: sich an ihrer ersten Liebe zu rächen.

Von dieser Geschichte ausgehend entwickelte ich mein eigenes Spieclass="underline" Ich würde in einen abgelegenen Ort gehen, deren Bewohner ein Leben voller Freude, Frieden und Mitgefühl führen, und würde sehen, ob ich es schaffe, daß einige die wichtigsten Gebote brechen.«

Chantal wandte den Blick ab und schaute auf die Berge. Sie wußte, daß der Fremde gemerkt hatte, daß sie diesen Schriftsteller nicht kannte, und fragte sich bang, was nun kommen würde.

»In diesem Ort sind alle ehrlich, angefangen bei Ihnen«, fuhr der Fremde fort. »Ich habe Ihnen einen Goldbarren gezeigt, der Sie frei und unabhängig machen würde, so daß Sie von hier weggehen, durch die Welt reisen, endlich tun könnten, wovon junge Mädchen in entlegenen Bergdörfern immer träumen. Er wird hier liegenbleiben. Sie wissen, er gehört mir. Aber Sie können ihn auch stehlen, wenn Sie wollen. Damit werden Sie allerdings gegen eines der wichtigsten Gebote verstoßen: >Du sollst nicht stehlen.<«

Das Mädchen blickte dem Fremden ins Gesicht.

»Die anderen zehn Goldbarren wären genug, damit sämtliche Bewohner des Dorfes in ihrem Leben nie wieder arbeiten müßten«, fuhr er fort. »Ich habe Sie nicht gebeten, sie wieder mit Erde zu bedecken, weil ich sie an einen anderen Ort bringen werde, den nur ich kenne. Ich möchte, daß Sie zurück ins Dorf gehen und von den Goldbarren und von meinem Angebot erzählen, sie den Bewohnern von Bescos zu geben, wenn sie etwas tun, was sie niemals für möglich gehalten hätten.«

»Zum Beispiel?«

»Hier geht es nicht um ein Beispiel, sondern um etwas ganz Konkretes: Ich möchte, daß sie das Gebot >Du sollst nicht töten< brechen.«

»Was?« Sie hatte die Frage geradezu herausgeschrien.

»Genau, Sie haben richtig gehört. Ich möchte, daß sie ein Verbrechen begehen.«

Der Fremde merkte, daß das Mädchen buchstäblich erstarrte; vielleicht würde sie jetzt gehen, ohne die Geschichte zu Ende zu hören. Er mußte ihr schnell seinen ganzen Plan offenbaren.

»Meine Frist beträgt eine Woche. Wenn am Ende der sieben Tage jemand im Dorf ermordet aufgefunden wird - es kann ein alter Mann sein, der zu nichts mehr nütze ist, ein unheilbar Kranker oder ein geistig Behinderter, der nur Arbeit macht: es ist gleichgültig, wer das Opfer ist -, dann gehört dieses Gold den Bewohnern von Bescos, und ich werde daraus schließen, daß wir alle schlecht sind. Wenn Sie jenen Goldbarren stehlen, der Ort aber der Versuchung widersteht, oder umgekehrt, werde ich daraus schließen, daß es gute und böse Menschen gibt, was mich vor ein ernstes Problem stellt, weil es einen Kampf auf spiritueller Ebene bedeutet, der von beiden Seiten gewonnen werden kann. Glauben Sie an Gott, an die Ebene der Spiritualität, Kämpfe zwischen Engeln und Dämonen?«