»Ich für mich will nichts dem Zufall überlassen. Meine Waffe wird als einzige garantiert geladen sein. Ich verzichte auch auf meinen Anteil am Gold. Ich tue es aus anderen Gründen.« Dem Bürgermeister gefiel erneut nicht, was der Priester sagte.
Er schien den Bewohnern von Bescos suggerieren zu wollen, daß er ein mutiger Mann mit Führungsqualitäten war, großzügig und zu jedem Opfer bereit. Wenn die Bürgermeistersfrau dagewesen wäre, hätte sie gesagt, er spekuliere auf den Bürgermeisterposten.
>Warten wir den Montag ab<, dachte er. Er würde geeignete Maßnahmen ergreifen, um dem Priester das Leben in Bescos gründlich zu versauern.
»Und das Opfer?« fragte der Schmied.
»Es wird dasein«, antwortete der Priester. »Ich kümmere mich darum. Aber ich brauche drei Männer, die mir helfen.«
Da sich niemand freiwillig meldete, wählte der Priester drei kräftige Männer aus. Nur einer versuchte sich zu entziehen, doch ein Blick seiner Freunde, und er spurte sofort.
»Wo soll die Opferung stattfinden?« fragte der Ländereienbesitzer, indem er sich direkt an den Priester wandte. Der Bürgermeister, der seine Autorität erneut schwinden sah, fuhr dazwischen:
»Das entscheide ich«, blaffte er den Besitzer der Ländereien wütend an. »Der Boden von Bescos darf nicht mit Blut befleckt werden. Die Opferung findet morgen zur gleichen Zeit neben dem keltischen Monolithen statt. Bringt Taschenlampen, Laternen und Fackeln mit, damit alle gut sehen, wohin sie das Gewehr richten, und nicht danebenschießen.«
Der Priester stieg vom Stuhl herunter. Die Versammlung war beendet, und alle hatten es eilig, nach diesem gespenstischen Abend nach Hause zu kommen. Der Bürgermeister traf seine Frau, die ihm von dem Besuch bei Berthe erzählte und von der Angst, die diese gehabt habe. Im übrigen seien sie und die Wirtin sich einig, daß Berthe nichts wissen konnte und daß allein ihr Schuldgefühl sie habe Gespenster sehen lassen, wo keine waren, »wie der verfluchte Wolf«, meinte sie.
Der Priester kehrte in die Kirche zurück und verbrachte die ganze Nacht im Gebet. Frühstück mußte Chantal mit dem Brot vom Vortag vorliebnehmen, denn sonntags gab's keinen Brotdienst. Sie blickte aus dem Fenster und sah, wie die Bewohner von Bescos ihre Häuser verließen, alle mit einem Gewehr in der Hand. Sie bereitete sich darauf vor zu sterben, denn es war ja durchaus möglich, daß die Wahl auf sie gefallen war. Doch niemand klopfte an ihre Tür, und alle gingen an ihrem Haus vorbei und weiter zur Sakristei, aus der sie kurz darauf mit leeren Händen wieder herauskamen.
Chantal trabte hinüber zum Hotel, wo die Wirtin ihr erzählte, was in der Nacht geschehen war: von der Wahl des Opfers, dem Vorschlag des Priesters, den Vorbereitungen für die Opferung. Der feindselige Ton war wie weggeblasen, und die Dinge schienen sich zu Chantals Gunsten zu wenden.
»Da ist noch etwas, was ich sagen wollte. Irgendwann wird Bescos merken, was du alles für seine Bewohner getan hast.«
»Aber sind Sie sicher, daß der Fremde das Gold herausrückt?«
fragte Chantal.
»Ich zweifle nicht daran. Eben ist er mit leerem Rucksack aufgebrochen.«
Sie beschloß, nicht im Wald spazierenzugehen, denn dazu hätte sie am Haus von Berthe vorbeigehen müssen, der sie nicht mehr in die Augen zu blicken wagte. Statt dessen kehrte sie in ihr Zimmer zurück.
Vergangene Nacht hatte sie einen merkwürdigen Traum gehabt. Ein Engel hatte ihr elf Goldbarren überreicht und sie gebeten, sie bei sich aufzubewahren.
Chantal antwortete dem Engel, daß hierzu jemand getötet werden müsse. Er versicherte, daß dem nicht so sei. Ganz im Gegenteil, die Barren bewiesen, daß es das Gold an sich nicht gab. Daher hatte sie die Wirtin gebeten, mit dem Fremden zu reden. Sie hatte einen Plan. Aber da sie alle Kämpfe in ihrem Leben immer verloren hatte, hatte sie große Zweifel an seiner Durchführbarkeit.
Berthe schaute auf die Sonne, die hinter den Bergen unterging, als sie den Priester und drei weitere Männer daherkommen sah. Sie wurde sehr traurig: Zum einen, weil sie wußte, daß ihre Stunde gekommen war; weiter, weil ihr Mann nicht da war, um ihr beizustehen (vielleicht weil er sich schämte, daß er sie nicht retten konnte); und drittens, weil sie bereute, ihr Erspartes nicht mit vollen Händen ausgegeben zu haben, das nun den Aktionären der Bank zufiel.
Doch eine Freude blieb ihr trotzdem: Der letzte Tag ihres Lebens war fröstelig, aber sonnig und hell gewesen. Nicht jedem wird das Privileg zuteil, mit einer so schönen Erinnerung zu gehen.
Der Priester machte den Männern ein Zeichen, in einiger Entfernung zu warten, und kam allein heran.
Berthe begrüßte ihn mit den Worten: »Seht nur, wie groß Gott ist und was für eine wunderschöne Natur er geschaffen hat! Ihr werdet mich mitnehmen, aber ich werde alle Schuld der Welt hier zurücklassen.«
»Sie ahnen nicht, wie schön das Paradies ist«, antwortete der Priester, aber Berthe merkte, daß ihr Pfeil ihn getroffen hatte und er um seine Fassung rang.
»Ich weiß nicht, ob es so schön ist, ich weiß noch nicht einmal, ob es existiert. Waren Sie schon einmal dort?«
»Noch nicht. Aber ich habe die Hölle kennengelernt und weiß, daß sie schrecklich ist, obwohl sie von außen sehr anziehend wirkt.«
Ihr war klar, daß er Bescos meinte. »Sie irren sich, Pater. Sie waren im Paradies und haben es nicht bemerkt. So geht es im übrigen den meisten Menschen auf dieser Welt. Sie suchen das Leiden an den fröhlichsten Orten, weil sie glauben, sie hätten es nicht verdient, glücklich zu sein.«
»Es sieht so aus, als hätten die Jahre, die Sie hier verbracht haben, Sie weiser gemacht.«
»Früher ist nie jemand gekommen, um mit mir zu reden, und jetzt entdecken alle plötzlich, daß es mich gibt. Stellen Sie sich vor, gestern abend haben mich sogar die Wirtin und die Bürgermeistersfrau mit ihrem Besuch beehrt. Und heute kommt der Gemeindepfarrer vorbei. Sollte ich zu einer so wichtigen Person geworden sein?«
»Und ob!« sagte der Priester. »Zur wichtigsten im ganzen Dorf.«
»Habe ich eine Erbschaft gemacht?«
»Zehn Goldbarren. Männer, Frauen und Kinder werden Ihnen für alle zukünftigen Generationen dankbar sein und Ihnen, wer weiß, vielleicht sogar ein Denkmal errichten.«
»Ich hätte lieber einen Brunnen. Zum einen schmückt er den Platz, zum anderen stillt er den Durst der Wanderer und vertreibt die düsteren Gedanken.«
»Sie werden Ihren Brunnen bekommen. Sie haben mein Wort.«
Berthe fand, daß es nun Zeit war, mit dieser Farce aufzuhören und anzusprechen, worum es wirklich ging.
»Ich weiß bereits alles, Pater. Sie verurteilen eine unschuldige Frau, die um ihr Leben nicht kämpfen kann. Verflucht seien Sie, dieser Ort und all seine Bewohner.«
»Ja, ich will verflucht sein«, stimmte der Priester zu. »Mehr als zwanzig Jahre habe ich versucht, diesen Ort zu segnen, aber niemand hat mein Rufen gehört. In ebendiesen zwanzig Jahren habe ich versucht, das Gute in die Herzen der Menschen zu pflanzen, bis ich begriff, daß Gott mich dazu erwählt hat, sein linker Arm zu sein und ihnen das Böse zu zeigen, zu dem sie fähig sind. Vielleicht erschrecken sie so, daß sie sich bekehren lassen.«
Berthe hätte am liebsten geweint, aber sie hatte sich in der Gewalt.
»Schöne Worte, leere Worte, mit denen Sie eine grausame und ungerechte Tat erklären wollen.«
»Im Gegensatz zu den anderen tue ich dies nicht um des Geldes willen. Ich weiß, daß dieses Gold genau wie dieser Ort verflucht ist und niemandem Glück bringen wird. Ich tue es, weil Gott mich darum gebeten hat. Oder besser gesagt: es mir befohlen hat, mein Gebet erhört hat.« >Es ist sinnlos, sich zu streiten<, dachte Berthe, während der Priester die Hand in die Tasche steckte und ein paar Tabletten herausholte.
»Sie werden nichts spüren«, sagte er. »Gehen wir hinein.«