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»Weder Sie noch sonst wer aus diesem Dorf wird mein Haus betreten, solange ich lebe. Vielleicht wird heute, am Ende der Nacht, die Tür offenstehen, aber jetzt nicht.«

Der Priester winkte einem der Männer, der mit einer Plastikflasche herankam.

»Nehmen Sie diese Tabletten. Sie werden damit in den nächsten Stunden schlafen können. Wenn Sie aufwachen, werden Sie im Himmel bei Ihrem Mann sein.«

»Ich war immer bei meinem Mann. Und ich habe niemals Schlaftabletten genommen, selbst wenn ich nicht schlafen konnte.«

»Um so besser. So werden sie sofort wirken.« Die Sonne war untergegangen, die Schatten begannen sich schnell über das Tal, die Kirche, den Ort zu legen. »Und wenn ich sie nicht nehme?« »Sie werden sie so oder so nehmen.« Sie sah zu den Männern hinüber, die ihn begleiteten, und begriff, daß der Priester die Wahrheit gesprochen hatte. Sie nahm die Tabletten, steckte sie in den Mund und trank die ganze Flasche leer. Wasser - ohne Geschmack, ohne Geruch, ohne Farbe und dennoch das Wichtigste auf der Welt. Genau wie sie in diesem Augenblick.

Sie schaute noch einmal auf die Berge, die jetzt im Schatten lagen. Sie sah, wie der erste Stern am Himmel erschien, und erinnerte sich daran, daß sie ein gutes Leben gehabt hatte: Sie war an einem Ort geboren, den sie liebte, und würde dort auch sterben - was wollte sie mehr? Wer liebt und dabei auf Gegenliebe hofft, der verliert nur seine Zeit. Sie war gesegnet gewesen. Sie hatte nie ein anderes Land kennengelernt, doch sie wußte, daß hier in Bescos die gleichen Dinge geschahen wie überall sonst. Sie hatte den Mann verloren, den sie liebte, aber Gott hatte ihr vergönnt, ihn auch nach seinem Tod weiterhin neben sich zu spüren. Sie hatte Bescos vor seinem endgültigen Niedergang gekannt und würde gehen, ehe es vollständig zerstört war. Sie hatte die Menschen mit ihren Fehlern und Tugenden kennengelernt und glaubte, daß am Ende - trotz allem, was ihr jetzt widerfuhr, und trotz der Kämpfe, die angeblich gerade im Jenseits ausgefochten wurden - das Gute im Menschen siegen würde.

Ihr taten der Priester leid, der Bürgermeister, Chantal Prym, der Fremde, jeder einzelne Bewohner von Bescos: Das Böse brachte nie das Gute hervor, auch wenn sie noch so fest daran glaubten. Wenn sie die Wahrheit entdeckten, würde es zu spät sein. Nur eines in ihrem Leben bereute sie: daß sie nie das Meer gesehen hatte. Sie wußte, daß es existierte, daß es riesig war, wild und still zugleich, aber sie hatte es nie dorthin geschafft, nie etwas von dem Salzwasser probiert, nie den Sand unter ihren nackten Füßen gespürt, war nie ins Wasser getaucht wie in den Leib der Großen Mutter, wie die Kelten zu sagen pflegten.

Sonst konnte sie sich nicht beklagen. Natürlich war sie traurig, sehr traurig, so gehen zu müssen, aber sie wollte sich nicht als Opfer fühlen. Ganz gewiß hatte Gott diese Rolle für sie ausgewählt, und sie war entschieden besser als die, die Er dem Priester zugedacht hatte.

»Noch ein Wort über das Gute und das Böse«, hörte sie den Priester sagen, während sie in den Händen und in den Füßen ein taubes Gefühl bekam.

»Nicht nötig. Sie kennen das Gute nicht. Sie wurden vom Bösen vergiftet, das man Ihnen angetan hat, und jetzt verbreiten Sie diese Seuche in unserem Ort. Sie sind kein bißchen anders als der Fremde, der uns heimgesucht hat und uns jetzt zerstört.«

Ihre letzten Worte hörte sie kaum noch. Sie schaute zum Stern und schloß die Augen.

Oben in seinem Zimmer ging der Fremde ins Bad, wusch sorgfältig einen Goldbarren nach dem ändern und steckte dann jeden einzeln zurück in seinen alten, abgewetzten Rucksack. Seit zwei Tagen hatte er die Bühne ganz verlassen und trat nun zum letzten Akt wieder auf.

Alles war genau geplant gewesen: von der Wahl des abgeschiedenen Ortes mit wenigen Einwohnern bis zur Wahl eines Komplizen, dem er die Sache notfalls in die Schuhe schieben würde, so daß ihn keiner der Anstiftung zum Mord bezichtigen konnte. Das Tonbandgerät, die Belohnung, die vorsichtigen Schritte; die erste Phase, in der er sich mit den Bewohnern angefreundet hatte; die zweite Phase, als er Schrecken und Verwirrung gestiftet hatte. Was Gott mit ihm getan hatte, würde er jetzt mit den anderen tun. Wie Gott ihm erst das Gute gegeben, ihn dann aber in den Abgrund gestoßen hatte, so würde er jetzt den ändern mitspielen.

Er hatte die winzigsten Details beachtet, nur eines nicht: Er hatte nie für möglich gehalten, daß sein Plan aufgehen könnte.

Er war davon ausgegangen, daß im entscheidenden Augenblick ein einfaches Nein den Lauf der Geschichte ändern würde: Einer würde sich bestimmt weigern mitzumachen, und es brauchte nur diesen Einen, damit nicht alles verloren war.

Wenn ein Mensch das Dorf rettete, wäre auch die Welt gerettet, dann gab es noch Hoffnung, dann war das Gute doch stärker; dann wußten die Terroristen

nicht, was sie Böses taten; dann würde ein Tag der Vergebung kommen, an dem alles Leid nur noch traurige Erinnerung wäre, und er könnte lernen, damit zu leben, und erneut das Glück suchen. Für dieses Nein, das er gern gehört hätte, würde das Dorf die elf Goldbarren erhalten - unabhängig von der Wette, die er mit der jungen Frau abgeschlossen hatte.

Aber sein Plan war fehlgeschlagen. Und jetzt war es zu spät, und er konnte nicht mehr zurück.

Es klopfte.

»Wir müssen gehen«, hörte er die Stimme der Wirtin. »Es ist Zeit.«

»Ich komme sofort runter.«

Er nahm seine Jacke, schlüpfte hinein und stieg hinunter in die Bar. »Ich habe das Gold dabei«, sagte er. »Aber um Mißverständnisse zu vermeiden, möchte ich, daß Sie wissen, daß ein paar Leute wissen, wo ich bin. Wenn Sie beschließen, das Opfer zu wechseln, wird mich die Polizei hier suchen. Sie haben ja gesehen, wie viele Telefongespräche ich geführt habe.«

Die Hotelbesitzerin nickte nur.

Der keltische Monolith lag eine halbe Stunde Fußmarsch von Bescos entfernt. Jahrhundertelang hatten die Menschen in ihm nur einen großen, von Regen und Eis polierten Stein gesehen, der von einem Blitz gefällt worden war. Ahab hatte dort den Ältestenrat versammelt, weil der Fels als natürlicher Tisch unter freiem Himmel diente.

Bis die Regierung ein Forschungsteam ins Tal schickte, das dort eine Erhebung über die Spuren der Kelten machen sollte, und jemand das Monument bemerkte. Daraufhin kamen die Archäologen in Scharen, maßen, rechneten, diskutierten, gruben und kamen zum Schluß, daß ein Keltenstamm den Ort einstmals als Kult- oder Opferstätte benutzt hatte, auch wenn unklar blieb, welche Rituale dort durchgeführt worden waren.

Einige vermuteten ein astronomisches Observatorium, andere sprachen von Fruchtbarkeitszeremonien zwischen Priestern und Jungfrauen. Die Wissenschaftler diskutierten eine Woche lang und brachen dann zu etwas Interessanterem auf, ohne über den Fund eine Einigung erzielt zu haben.

Als der Bürgermeister gewählt worden war, hatte er versucht, den Tourismus anzukurbeln, indem er eine regionale Zeitung dazu brachte, eine Reportage über das keltische Erbe von Bescos zu veröffentlichen. Doch die Pfade waren unwegsam, und die wenigen Abenteurer fanden am Ende nur einen umgefallenen Stein, während andere Dörfer im Tal Skulpturen, Inschriften und andere interessante Dinge zu bieten hatten. Aus der Touristenattraktion wurde nichts, und in kürzester Zeit wurde der Monolith wieder seiner alten Funktion zugeführt: Er diente den Bewohnern von Bescos am Wochenende als Picknicktisch. Am Nachmittag wurde in zahlreichen Häusern von Bescos wacker gestritten, und zwar immer aus dem gleichen Grund.

Die Ehemänner wollten allein gehen, die Frauen verlangten,

»am Ritual der Opferung« teilzunehmen, wie die Bewohner das anstehende Verbrechen inzwischen nannten. Die Ehemänner erklärten, es sei gefährlich und die Feuerwaffen unberechenbar, doch die Frauen ließen nicht locker, nannten die Männer verdammte Egoisten, die nicht wahrhaben wollten, daß die Welt sich verändert habe und daß sie gefälligst die Rechte der Frauen respektieren sollten. Am Ende gaben die Ehemänner nach.