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Langsam und schwankend setzte sich die Prozession in Richtung des Waldes in Bewegung, eine Lichterkette aus 281 Menschen mit Laternen und Taschenlampen - den Fremden mitgerechnet, nicht aber Berthe, die auf einer improvisierten Bahre lag und schlief. In der Hand trug jeder Mann sein Gewehr, mit abgeknicktem Lauf, damit keines aus Versehen losging.

Zwei Holzfäller stöhnten unter Berthes Holzbahre. >Wie gut, daß wir dieses Gewicht nicht wieder zurücktragen müssen!< dachte der eine. >Mit all den Kugeln im Leib ist sie bestimmt dreimal so schwer.< Dem Mann wurde flau. Er durfte nicht weiter nachdenken, erst wieder am Montag.

Auf dem ganzen Weg sprach keiner ein Wort. Niemand schaute dem anderen in die Augen, wie in einem Alptraum, den es so schnell wie möglich zu vergessen galt. Als sie, weniger vor Anstrengung denn vor Anspannung, schwer atmend endlich auf der Lichtung ankamen, stellten sie sich im Halbkreis um den keltischen Monolithen.

Auf ein Zeichen des Bürgermeisters banden die Holzfäller Berthe los und legten sie auf den Stein.

»So geht das nicht«, meinte der Schmied, der sich an Kriegsfilme mit auf dem Boden robbenden Soldaten erinnerte.

»Es ist schwierig, jemand Liegenden zu treffen.«

Daraufhin nahmen die Holzfäller Berthe herunter und setzten sie mit dem Rücken gegen den Stein auf den Boden. Dies schien die ideale Stellung zu sein. Doch plötzlich hörte man eine Frau schluchzen.

»Sie schaut uns an«, sagte sie. »Sie sieht uns zu.«

Selbstverständlich sah Berthe überhaupt nichts, aber es war unerträglich, die gütige Frau anzusehen, die mit einem Lächeln auf den Lippen dalag und schlief und in Kürze schon von vielen kleinen Metallkugeln zerfetzt werden würde.

»Setzt sie mit dem Rücken zu uns hin«, befahl der Bürgermeister, der den Anblick ebenfalls nicht ertrug.

Grummelnd gingen die Holzfäller noch einmal zum Monolithen und drehten den Körper um, der nunmehr auf dem Boden kniete und mit Gesicht und Brust am Stein lehnte. Da Berthe unmöglich in dieser Position fixiert werden konnte, mußte ein Strick um ihre Handgelenke gebunden, über den Stein geführt und an der anderen Seite festgebunden werden.

Die Stellung war jetzt grotesk: eine kniende Frau, die ihnen den Rücken zugewandt und die Arme über den Stein gereckt hatte, als würde sie beten oder etwas erflehen. Jemand beschwerte sich abermals, aber der Bürgermeister sagte, es sei Zeit, die Sache zu Ende zu bringen.

Je schneller, desto besser, ohne viel Federlesens. Die Rechtfertigungen konnten bis morgen warten. Viele würden künftig den Dorfeingang meiden, wo bisher immer die alte Frau gesessen, zu den Bergen hinübergeblickt und Selbstgespräche geführt hatte. Doch der Ort hatte zum Glück noch zwei weitere Ausgänge, nebst einem kleinen Pfad, der über eine Art Treppe direkt zur darunter verlaufenden Landstraße führte.

»Laßt uns die Sache schnell hinter uns bringen«, schlug der Bürgermeister vor, der sich freute, weil der Priester nun nichts mehr sagte, und seine eigene Autorität wiederhergestellt sah.

»Jemand im Tal könnte die Lichter sehen und wissen wollen, was hier vorgeht. Legt die Gewehre an und schießt, und dann wollen wir gehen.«

Formlos, ohne jedes Zeremoniell. In Erfüllung ihrer Pflicht wie gute Soldaten, die ihren Ort verteidigen. Ohne zu zögern.

Befehl war Befehl. Da begriff der Bürgermeister plötzlich, was das Schweigen des Priesters zu bedeuten hatte und daß er in eine Falle gegangen war. Sollte die Geschichte eines Tages durchsickern, könnten alle sagen, was die Kriegsverbrecher auch immer sagten: Sie hätten nur ihre Pflicht getan. Was ging jetzt in den Herzen dieser Leute vor? War er für sie ein Schuft oder ein Retter?

Er durfte nicht schwach werden, nicht jetzt, da er hörte, wie die Gewehrläufe hochgeklappt wurden und einrasteten. Er stellte sich das Ballern der 174 Flinten vor und unmittelbar danach den überstürzten Rückzug mit den gelöschten Laternen und Lampen, wie er es für den Heimweg angeordnet hatte. Sie kannten den Weg wie ihre eigene Westentasche, und sie durften auf gar keinen Fall die Aufmerksamkeit der Nachbardörfer auf sich ziehen.

Instinktiv wichen die Frauen zurück, und die Männer zielten aus etwa fünfzig Metern auf den reglosen Körper. Sie würden treffen, denn sie hatten von klein auf gelernt, auf Tiere in Bewegung zu schießen.

Der Bürgermeister wollte gerade den Befehl zum Schießen geben, da rief eine Frauenstimme: »Halt!« Es war Chantal Prym.

»Und das Gold? Habt ihr das Gold gesehen?« Die Gewehre wurden gesenkt, blieben aber geladen. Nein, niemand hatte das Gold gesehen. Alle wandten sich dem Fremden zu.

Der trat langsam vor, bis er vor den Waffen stand. Er stellte den Rucksack auf den Boden und holte einen nach dem ändern die Goldbarren heraus.

»Da ist es«, sagte er und ging an seinen Platz am einen Ende des Halbkreises zurück.

Chantal Prym ging zu der Stelle, wo die Goldbarren lagen, und hob einen auf.

»Das ist Gold«, bestätigte sie. »Aber ich möchte, daß ihr es bezeugt. Neun Frauen sollen hierherkommen, und jede soll die Barren prüfen, die noch auf dem Boden liegen.« Der Bürgermeister wurde unruhig, weil sie so in die Schußlinie kamen; wie leicht konnte aus Versehen ein Schuß losgehen!

Aber neun Frauen - darunter auch seine eigene -gingen zu Chantal Prym und taten wie geheißen.

»Ja, das ist Gold«, bestätigte jetzt die Bürgermeistersfrau, die den Barren in der Hand wog und mit den wenigen Schmuckstücken verglich, die sie besaß. »Er trägt den Stempel der Regierung, eine Seriennummer, das Datum, an dem er gegossen wurde, und die Angabe des Gewichts. Wir werden nicht betrogen.«

»Behaltet sie in der Hand, und hört mir jetzt gut zu.«

»Jetzt ist nicht der Moment für Reden, Mademoiselle«, sagte der Bürgermeister. »Weg da jetzt, wir müssen unsere Aufgabe zu Ende bringen.«

»Halten Sie den Mund, Sie Idiot!«

Chantals Schrei ließ alle zusammenfahren. Keiner hätte sich je träumen lassen, daß in Bescos je solche Worte fallen würden.

»Sind Sie verrückt geworden?«

»Halten Sie den Mund!« schrie Chantal noch lauter. Sie zitterte am ganzen Leib, und ihre Augen sprühten vor Haß. »Sie sind verrückt, Sie sind in diese Falle gegangen, die uns zu Verurteilung und Tod führt! Sie sind verantwortungslos!«

Der Bürgermeister ging auf sie los, wurde aber von zwei Männern zurückgehalten.

»Ich will hören, was die junge Frau uns zu sagen hat!« schrie eine Stimme aus der Menge. »Zehn Minuten mehr oder weniger, darauf kommt's nicht an.«

Doch zehn - ja nur fünf - Minuten machen sehr viel aus, und alle, Männer wie Frauen, wußten das.

Je länger sie diese Szenerie vor Augen hatten, desto größer wurde ihre Angst, desto größer wurde das Schuldgefühl, desto mehr schämten sie sich. Sie würden händeringend nach einer Rechtfertigung suchen, nachdem sie sich, jeder für sich, den ganzen Hinweg eingeredet hatten, sie wären diejenigen, die eine Waffe mit Platzpatrone bekommen hätten, und es gelte, alles möglichst schnell hinter sich zu bringen. Jetzt aber hatten sie Angst, daß ihr Gewehr scharf geladen sein könnte und der Geist der alten Hexe nachts über sie kommen würde.

Oder daß jemand etwas ausplauderte. Oder daß der Priester sein Versprechen brach und daß alle Anwesenden schuldig wären.

»Fünf Minuten«, sagte der Bürgermeister, als hätte er noch das Sagen, obwohl in Wahrheit die junge Frau ihm ihre Regeln aufgezwungen hatte.

»Ich werde so lange reden, wie ich es für richtig halte«, sagte Chantal, die sich wieder gefaßt hatte. Sie würde keinen Zentimeter weichen. Sie sprach jetzt mit einer Autorität, die sie nicht an sich kannte. »Aber ich werde nicht lange brauchen. Es ist schon merkwürdig zu sehen, was hier geschieht, vor allem, wo wir doch alle wissen, daß zu Ahabs Zeiten Mä nner durch diesen Ort kamen, die behaupteten, einen Staub zu besitzen, der Blei in Gold verwandeln konnte. Sie nannten sich Alchimisten, und zumindest einer erbrachte den Beweis, daß er die Wahrheit sprach, als ihn Ahab mit dem Tode bedrohte.