Oder ein Alptraum.
Nur zwei Laternen und drei Personen blieben auf der Lichtung zurück - und eine davon schlief an einen Stein gebunden.
»Hier ist das Gold für Ihr Dorf«, sagte der Fremde zu Chantal.
»Jetzt habe ich weder das Gold noch eine Antwort.«
»Das Gold für mein Dorf? Nein, es gehört mir. Wie auch der Goldbarren beim y-förmigen Fels. Und Sie werden es mit mir zusammen zu Geld machen. Ich vertraue keinem Ihrer Worte.«
»Sie wissen, daß ich nicht tun würde, was Sie gesagt haben.
Und Ihre Verachtung mir gegenüber gilt in Wirklichkeit Ihnen selbst. Sie sollten dankbar für alles sein, was geschehen ist. Als ich Ihnen das Gold gezeigt habe, gab ich Ihnen viel mehr als nur die Möglichkeit, reich zu werden. Ich habe Sie gezwungen, zu handeln und sich nicht mehr andauernd über alles zu beschweren. Ich habe Sie gezwungen, Stellung zu beziehen.«
»Sehr großzügig von Ihnen«, gab Chantal ironisch zurück und fuhr dann fort. »Vom ersten Augenblick an hätte ich etwas zur menschlichen Natur sagen können. Bescos mag ein sterbender Ort sein, aber er hatte eine ruhmreiche Vergangenheit voller Weisheit. Ich hätte Ihnen die Antwort geben können, die Sie suchten, wenn sie mir nur eingefallen wäre.«
Chantal ging zu Berthe, um sie loszubinden, und sah, daß sie sich die Stirn aufgeschürft hatte. Es war nicht weiter schlimm und rührte womöglich nur von der Stellung her, in der man ihren Kopf auf den Stein gelegt hatte. Das Problem war jetzt, daß sie bis zum Morgen hier warten mußten, bis sie aufwachte.
»Können Sie mir die Antwort jetzt geben?« fragte der Mann.
»Jemand wird Ihnen schon vom Zusammentreffen des heiligen Savinus und Ahab erzählt haben.«
»Natürlich. Der Heilige ist gekommen, hat ein wenig mit ihm gesprochen, und am Ende wurde der Araber bekehrt, weil er sah, daß der Mut des Heiligen größer war als sein eigener.«
»Genau. Allerdings hat Ahab schon von Anfang an und die ganze Zeit, in der sie miteinander redeten, seinen Dolch gewetzt, was Savinus nicht daran hinderte, selig einzuschlafen.
Ahab, der davon ausging, daß alle Welt wie er dachte, wollte Savinus provozieren und fragte ihn:
>Wenn jetzt die schönste Hure der Stadt hier hereinkäme, würde Sie es dann über sich bringen zu denken, sie sei weder schön noch verführerisch?<
>Nein. Aber es würde mir gelingen, mich zu beherrschen<, antwortete der Heilige.
>Und wenn ich Ihnen viele Goldstücke anbieten würde, damit Sie den Berg verlassen und sich uns anschließen, würden sie es über sich bringen, dieses Gold anzuschauen, als wären es Steine?<
>Nein. Aber es würde mir gelingen, mich zu beherrschen.<
>Und wenn zwei Brüder Sie aufsuchen würden, von denen der eine Sie verabscheut und der andere sieht, daß Sie ein Heiliger sind, würden Sie es über sich bringen, sie beide gleich zu behandeln?<
>Auch wenn es mich hart ankäme und ich darunter leiden müßte, würde es mir gelingen, mich zu beherrschen und beide gleich zu behandeln.<« Chantal machte eine Pause und fuhr fort: »Es heißt, dieses Gespräch hätte Ahab dazu bewogen, sich bekehren zu lassen.«
Der Fremde brauchte Chantals Erklärung nicht mehr. Savinus und Ahab hatten die gleichen Triebe - das Gute und das Böse kämpften um sie wie um alle Seelen auf der Erde. Als Ahab begriff, daß Savinus wie er war, begriff er zugleich, daß er war wie Savinus.
Es war alles nur eine Frage der Selbstkontrolle. Und eine Frage, wie man sich entschied.
Nichts weiter.
Chantal blickte ein letztes Mal auf das Tal, die Berge, die Wälder, durch die sie als Kind immer gewandert war, sie schmeckte in Gedanken das kristallklare Wasser, das frisch geerntete Gemüse, den selbstgekelterten Wein aus den besten Trauben der Gegend, der von den Bewohnern des Ortes eifersüchtig gehütet wurde - er war weder für die Touristen noch für den Export gedacht.
Sie war nur zurückgekommen, um sich von Berthe zu verabschieden. Sie trug die gleiche Kleidung wie immer, damit niemand herausfand, daß sie durch ihren kurzen Abstecher in die Stadt zu einer reichen Frau geworden war. Der Fremde hatte sich um alles gekümmert, die Papiere für die Überschreibung des Goldes unterzeichnet, dafür gesorgt, daß es verkauft und der Erlös auf das neueröffnete Konto von Chantal Prym überwiesen wurde. Der Kassierer der Bank stellte nur die für diese Art Transaktion unbedingt notwendigen Fragen, doch die Blicke, die er Chantal immer wieder zuwarf, sprachen Bände. Die junge Person war sic her die Geliebte des älteren Herrn, las sie in seinen Augen. Und Chantal genoß es, daß der Kassierer ihr offensichtlich zutraute, daß sie dem Fremden mit ihren Reizen soviel Geld abluchsen konnte.
Auf dem Weg war sie verschiedenen Bewohnern des Dorfes begegnet. Keiner wußte, daß sie fortgehen würde, und alle begrüßten sie, als wäre nichts geschehen, als hätte der Dämon den Ort nie heimgesucht. Sie erwiderte den Gruß und tat ebenfalls so, als wäre dieser Tag ein Tag wie jeder andere.
Sie wußte noch nicht, inwieweit sie sich durch all das verändert hatte, was sie über sich selbst herausgefunden hatte. Aber das hatte Zeit. Berthe saß vor ihrem Haus. Nun nicht mehr, um auf das Böse aufzupassen, sondern, weil sie nichts anderes zu tun hatte.
»Sie werden mir zu Ehren einen Brunnen bauen«, sagte sie.
»Als Preis für mein Schweigen. Auch wenn ich weiß, daß er nicht lange halten und auch nur wenigen Menschen den Durst stillen wird, da Bescos so oder so zum Sterben verurteilt ist: nicht wegen des Dämons, der hier erschienen ist, sondern aufgrund der Zeiten, in denen wir leben.«
Chantal fragte, wie dieser Brunnen aussehen werde. Berthe hatte sich ausgedacht, daß er aus einer Sonne bestehen sollte, aus der Wasser in den Mund einer Kröte floß. Die Sonne war sie selber, die Kröte der Priester.
»Ich stille euren Durst nach Licht«, hatte sie dem Bürgermeister gesagt, »und werde darum so lange unter euch weilen, wie es diesen Brunnen gibt.«
Der Bürgermeister hatte alles viel zu teuer gefunden, doch Berthe hörte nicht auf ihn. Er hatte keine andere Wahl. Die Arbeiten sollten in der kommenden Woche beginnen.
»Und du wirst endlich das tun, was ich dir geraten habe, mein Kind. Eins kann ich dir mit Gewißheit sagen: Das Leben kann, je nachdem, wie wir es leben, kurz oder lang sein.«
Chantal lächelte, umarmte sie und kehrte Bescos für immer den Rücken. Die Alte hatte recht: Sie hatte keine Zeit zu verlieren, auch wenn sie hoffte, ein langes Leben zu haben.
Nachwort
Die erste Geschichte über die Trennung von Gut und Böse stammt von den alten Persern: Der Gott der Zeit erkennt, nachdem er das Universum erschaffen hat, daß etwas sehr Wichtiges fehlt - jemand, mit dem er all diese Schönheit zusammen genießen kann.
Tausend Jahre lang betet er um einen Sohn. Die Ges chichte sagt nichts darüber, wen er darum bittet, obwohl er der einzige und damit höchste Herrscher ist. Dennoch betet er und wird am Ende schwanger.
Als er sieht, daß er bekommt, was er erbeten hat, bereut er seinen Wunsch, weil ihm bewußt wird, wie unsic her das Gleichgewicht der Dinge ist. Doch nun ist es zu spät - der Sohn ist bereits unterwegs. Der Gott erreicht mit seinem Weinen nur, daß sich der Sohn in seinem Leib in zwei Söhne aufteilt.
Die Legende berichtet, daß so Zwillingsbrüder entstanden: Ormuz , das Gute, aus seinem Gebet, und Arima, das Böse, aus seiner Reue.
Es gilt also, mit aller Macht dafür zu sorgen, daß Ormuz als erster geboren wurde, damit er seinen Bruder zügeln und davon abhalten kann, dem Universum zu schaden.
Doch das Böse ist gewitzt und geschickt. Es gelingt ihm, Ormuz bei der Geburt zur Seite zu schubsen und so als erster das Licht der Sterne zu erblicken.
Verzweifelt beschließt der Gott der Zeit, Verbündete für Ormuz zu schaffen: Er läßt die Menschen entstehen, die mit diesem zusammen kämpfen, um Arima zu besiegen und zu verhindern, daß er die Weltherrschaft an sich reißt. In der persischen Legende entsteht der Mensch als Verbündeter des Guten, dem bestimmt ist, am Ende über das Böse zu siegen. Eine andere Geschichte über die Teilung taucht viele Jahrhunderte später auf. Dieses Mal unter umgekehrten Vorzeichen. Der Mensch ist hier ein Werkzeug des Bösen.