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Das Mädchen schwieg, und ihm wurde klar, daß er diesmal die Frage zum falschen Zeitpunkt gestellt hatte. Womöglich machte es auf dem Absatz kehrt und ließ ihn nicht ausreden. Er mußte mit den ironischen Spielereien aufhören und die Sache direkt ansprechen:

»Wenn ich am Ende den Ort mit meinen elf Goldbarren wieder verlasse, dann hat sich all das, was ich glauben wollte, als Lüge erwiesen. Ich werde mit der Antwort sterben, die ich nicht haben wollte, weil das Leben einfacher wäre, wenn ich recht gehabt hätte, nämlich daß die Welt schlecht ist.

Mein Leid würde dadurch nicht aufhören, aber wenn auch alle anderen Menschen leiden, wird es erträglicher. Allerdings ist etwas falsch an der Schöpfung, wenn nur einige dazu verdammt sind, große Tragödien zu erleiden.«

Chantals Augen füllten sich mit Tränen. Doch sie beherrschte sich und fragte:.

»Warum tun Sie das? Warum mit meinem Dorf?« »Es geht hier weder um Sie noch um Ihr Dorf, sondern einzig und allein um mich: Die Geschichte eines Menschen ist die Geschichte der ganzen Menschheit. Ich will wissen, ob wir gut oder schlecht sind. Wenn wir gut sind, ist Gott gerecht. Und er wird mir alles vergeben, was ich getan habe, was ich denen gewünscht habe, die mich zu zerstören versuchten, die falschen Entscheidungen, die ich in den wichtigsten Stunden getroffen habe, auch den Vorschlag, den ich Ihnen jetzt unterbreite - denn Gott war es, der mich auf die dunkle Seite gestoßen hat.

Wenn wir schlecht sind, dann ist alles erlaubt, dann habe ich nie eine falsche Entscheidung getroffen, dann sind wir bereits verdammt, und es ist ziemlich gleichgültig, was wir in diesem Leben tun, denn die Erlösung liegt jenseits des Denkens und des Handelns eines Menschen.«

Bevor Chantal gehen konnte, fügte er noch hinzu:

»Sie können beschließen, nicht mitzumachen. In diesem Fall werde ich allen sagen, daß ich Ihnen die Gelegenheit gegeben habe, allen zu helfen, Sie sich aber geweigert haben, und ich werde selber den Vorschlag machen. Wenn sie beschließen, jemanden zu töten, kann es durchaus sein, daß Sie dann das Opfer sein werden.«

Die Bewohner von Bescos gewöhnten sich an die Routine des Fremden: Er stand früh auf, nahm ein kräftiges Frühstück ein und brach dann zu seinen Wanderungen in die Berge auf, obwohl der Regen, der zwei Tage nach seiner Ankunft angefangen hatte, nicht wieder aufhörte, später zu Schneeregen mit einigen seltenen Aufheiterungen geworden war. Er aß nie zu Mittag, sondern kam erst am frühen Nachmittag ins Hotel zurück, schloß sich in seinem Zimmer ein, um, wie alle annahmen, zu schlafen.

Sobald es dunkel wurde, nahm er seine Wanderungen wieder auf, diesmal in der Umgebung des Ortes. Er kam immer als erster ins Restaurant, bestellte die leckersten Gerichte, wobei er sich vom Preis nicht irreführen ließ, wählte immer den besten Wein, der nicht unbedingt der teuerste war, rauchte eine Zigarette und ging dann in die Bar, wo er sich schnell mit den Stammgästen anfreundete.

Er hörte gern die alten Dorflegenden, in denen von Generationen die Rede war, die einst Bescos bewohnt hatten (jemand sagte, daß der Ort früher einmal sehr viel größer gewesen sei als heute, wie die paar verfallenen Häuser am Rand des Dorfes bewiesen), Geschichten über die Gebräuche und den Aberglauben, die zum Leben der Menschen auf dem Lande gehörten, von moderner Landwirtschaft und dem Hüten des Viehs.

Als die Reihe an ihn kam, über sich zu sprechen, gab er ein paar widersprüchliche Geschichten zum besten, mal erzählte er, er sei Seemann gewesen, dann wieder sprach er von einer großen Waffenfabrik, die er geleitet haben wollte, oder davon, daß er sich eine Zeitlang auf der Suche nach Gott in ein Kloster zurückgezogen habe.

Auf dem Heimweg von der Bar diskutieren die Leute von Bescos darüber, ob er die Wahrheit gesagt oder gelogen hatte.

Der Bürgermeister fand, daß ein Mann im Leben vielerlei sein könne, obwohl die Leute von Bescos von Kindesbeinen an wußten, wie ihr Leben aussehen würde. Der Priester hingegen meinte, der Ankömmling wirke verloren und verwirrt und sei hierhergekommen, um sich selber zu finden.

Das einzige, worin sie alle übereinstimmten, war, daß er mit Sicherheit nur sieben Tage bleiben würde. Die Hotelbesitzerin erzählte, daß sie mitgehört habe, wie er mit dem Flughafen der Hauptstadt telefoniert und seinen Abflug bestätigt hatte, merkwürdigerweise nach Afrika und nicht nach Südamerika.

Anschließend hatte er ein Bündel Geldscheine aus der Tasche gezogen, um die Zimmermiete und die bereits eingenommenen und noch ausstehenden Mahlzeiten zu bezahlen, obwohl sie ihm mehrfach versicherte, sie habe ganzes Vertrauen in ihn. Da der Fremde nicht lockerließ, schlug die Frau vor, er solle doch wie die anderen Gäste mit der Kreditkarte bezahlen und das Bargeld für alle Fälle behalten. Ihr lag auf der Zunge hinzuzufügen: »Vielleicht nehmen die ja in Afrika keine Kreditkarten«, sie wollte aber nicht zeigen, daß sie das Telefongespräch mitgehört hatte und Afrika für unterentwickelt hielt.

Der Fremde dankte ihr für ihre Fürsorge, lehnte aber höflich ab.

An den drei folgenden Abenden gab er - jeweils in bar - für alle eine Runde aus. Das war in Bescos noch nie passiert, und so vergaßen sie gern seine widersprüchlichen Geschichten und sahen in ihm nur noch den großzügigen, freundlichen, vorurteilsfreien Menschen, der Bauern genauso behandelte wie die Leute aus der großen Stadt.

Die Diskussionen der Stammgäste bekamen jetzt ein anderes Thema: Wenn die Bar zumachte, gaben immer mehr Dorfbewohner dem Bürgermeister recht, der sagte, der Fremde sei ein welterfahrener Mann, der eine gute Freundschaft zu würdigen wisse. Andere hingegen waren eher der Meinung des Priesters, weil der sich in Fragen, die die menschliche Seele betrafen, besser auskannte. Für sie war er ein einsamer Mann auf der Suche nach neuen Freunden oder einer neuen Sicht des Lebens. Sei es, wie es wolle, sie hielten ihn alle für einen angenehmen Zeitgenossen, und die Bewohner von Bescos waren überzeugt, daß sie den Mann bestimmt vermissen würden, wenn er am nächsten Montag wieder abreiste.

Zudem war er ein äußerst zurückhaltender Mensch, was alle an einem wichtigen Detail festmachten. Fremde, vor allem wenn sie allein reisten, machten sich immer an Chantal Prym heran, das Mädchen, das in der Bar servierte. Vielleicht suchten sie eine flüchtige Romanze, wer weiß. Dieser Mann hingegen wandte sich nur an sie, um Getränke zu bestellen, und bedachte Chantal niemals mit verführerischen oder lüsternen Blicken.

In den drei Nächten, die auf das Treffen am Bach folgten, bekam Chantal praktisch kein Auge zu. Das Unwetter, das mal abflaute und dann wieder stärker wurde, rüttelte an den metallenen Rolläden und machte einen beängstigenden Lärm.

Sie wachte immer wieder schweißgebadet auf, obwohl sie die Heizung wegen des Strompreises nachts immer abdrehte. In der ersten Nacht war das Gute bei ihr. Zwischen den Alpträumen, an deren Inhalt sie sich nicht erinnern konnte, betete sie zu Gott und bat Ihn um Hilfe. Es kam ihr niemals in den Sinn, etwas von dem, was sie gehört hatte, weiterzuerzählen und sich zur Sendbotin der Sünde und des Todes zu machen.

Irgendwann fand sie, Gott sei zu weit entfernt, um sie hören zu können, und fing daher an, zu ihrer Großmutter zu beten, die vor einiger Zeit gestorben war. Sie hatte sie aufgezogen, nachdem ihre Mutter im Kindbett gestorben war. Mit aller Kraft klammerte sie sich an den Gedanken, daß das Böse schon einmal hier gewesen und für immer gegangen war.

Trotz ihrer persönlichen Probleme wußte Chantal, daß sie in einem Ort von ehrbaren Männern und Frauen lebte, die ihre Pflicht erfüllten, Menschen, die erhobenen Hauptes gingen und in der ganzen Gegend geachtet wurden. Aber das war nicht immer so gewesen. Bescos war zwei Jahrhunderte lang vom Schlimmsten beherrscht worden, was die Menschheit hervorgebracht hatte, und alle hatten dies als etwas ganz Natürliches hingenommen, weil sie es für die Folgen eines Fluches hielten, den die Kelten ausgesprochen hatten, nachdem sie von den Römern besiegt worden waren.