Bis das Schweigen und der Mut eines einzelnen Mannes - eines, der nicht an Flüche, sondern nur an Segnungen glaubte - sein Volk erlöst hatte. Chantal lauschte dem Scheppern der metallischen Rolläden und erinnerte sich an die Stimme ihrer Großmutter, wie sie ihr erzählte, was sich einst zugetragen hatte.
»Vor vielen Jahren lebte hier in der Gegend in einer Höhle ein Eremit, der später als der heilige Savinus bekannt werden sollte. Damals war Bescos ein Grenzposten, der von Banditen nur so wimmelte, die sich auf der Flucht vor der Justiz befanden, und von Schmugglern, Prostituierten, Abenteurern, die auf der Suche nach Gleichgesinnten waren, von Mördern, die sich hier zwischen zwei Morden ausruhten. Der schlimmste aber war ein Araber namens Ahab, der das Dorf und das Umland unter Kontrolle hatte und der den Bauern, die trotz allem darauf bestanden, auf ehrbare Weise zu leben, Steuern abpreßte.
Eines Tages stieg Savinus aus seiner Höhle herab und begab sich zu Ahabs Haus und bat, dort übernachten zu dürfen. Ahab lachte: >Wißt Ihr nicht, daß ich ein Mörder bin, daß ich schon mehreren Landsleuten die Kehle durchgeschnitten habe und Euer Leben mir nichts wert ist?<
>Doch<, antwortete Savinus. >Aber ich bin es müde, in jener Höhle zu leben. Ich würde zu gern wenigstens eine Nacht hier verbringen.<
Ahab wußte um den Ruhm des Heiligen, der genauso groß war wie sein eigener, und er ärgerte sich, denn er hatte keine Lust, seinen Ruhm mit jemand so Schwachem zu teilen. Daher beschloß er ihn noch in derselben Nacht umzubringen, um allen zu zeigen, daß er der einzige und wahre Herr im Ort war.
Sie kamen ins Plaudern, und Ahab war von den Worten des Heiligen beeindruckt. Aber er war ein mißtrauischer Mensch und glaubte nicht mehr an das Gute. Er wies Savinus einen Platz an, wo er sein Lager aufschlagen konnte, und wetzte drohend sein Messer. Savinus aber schloß, nachdem er ihm eine Weile zugesehen hatte, die Augen und schlief ein.
Ahab wetzte die ganze Nacht sein Messer. Morgens, als Savinus erwachte, fand er ihn weinend neben sich.
>Ihr habt weder Angst vor mir, noch habt Ihr mich verurteilt.
Zum ersten Mal hat jemand die Nacht an meiner Seite verbracht, der darauf vertraute, daß ich ein guter Mensch sein könnte, der denen Gastfreundschaft gewährt, die es verdienen.
Weil Ihr daran glaubtet, daß ich mich richtig verhalten könnte, habe ich es auch getan.<
Von diesem Tag an gab Ahab sein verbrecherisches Leben auf.
Damit veränderte sich auch die Gegend, und Bescos war nicht länger ein Grenzposten voller zwielichtiger Gestalten, sondern wurde zu einem wichtigen Umschlagplatz für den Handel zwischen zwei Ländern.«
»Ja, so war es.« Chantal brach in Tränen aus, dankte ihrer Großmutter dafür, daß sie sie an diese Geschichte erinnert hatte. Die Leute aus ihrem Dorf waren gute Menschen, sie konnte auf sie vertrauen.
Während sie wieder einzuschlafen versuchte, begann sie mit dem Gedanken zu spielen, den anderen von dem Vorschlag, den ihr der Fremde gemacht hatte, zu erzählen, und sei es nur, um dessen erschrockenes Gesicht zu sehen, wenn ihn die Bewohner von Bescos aus dem Ort jagten.
Am nächsten Tag wunderte sie sich, als sie ihn das Restaurant im hinteren Teil des Hotels verlassen und in den Teil kommen sah, in dem sich die Bar, der Empfang und der kleine Laden mit den Naturprodukten befanden; dort versuchte er mit den Leuten wie ein ganz gewöhnlicher Tourist ein Gespräch anzufangen und tat so, als interessiere er sich für absolut unnütze Themen, zum Beispiel wie man Schafe schert oder wie man Fleisch räuchert.
Die Bewohner von Bescos glaubten immer, alle Auswärtigen seien vom gesunden, natürlichen Leben, das sie führten, fasziniert, und ergingen sich daher immer wieder in denselben Geschichten darüber, wie gut es sei, fern der modernen Zivilisation zu leben, und schmückten diese sogar noch aus.
Dabei wäre jeder von ihnen im Grunde seines Herzens am liebsten weit weg von hier gewesen und hätte ein Leben inmitten von Autos, die die Luft verpesten, und Vierteln, in denen man nicht sicher war, allein nur deshalb vorgezogen, weil die großen Städte auf die Menschen vom Lande nun einmal eine unglaubliche Anziehungskraft hatten.
Jedem Gast erzählten sie aber, wie glücklich sie seien, in einem verlorenen Paradies zu leben, und versuchten sich selbst einzureden, daß es ein Wunder war, hier geboren zu sein.
Allerdings vergaßen sie dabei, daß bislang noch kein Hotelgast beschlossen hatte, alles aufzugeben und nach Bescos zu ziehen.
Der Abend verlief vergnügt und fröhlich, bis der Fremde eine Bemerkung machte, die er besser unterlassen hätte: »Die Kinder hier sind sehr wohlerzogen. Anders als an anderen Orten, in denen ich gewesen bin, habe ich sie morgens nie herumschreien hören.«
Nach einem peinlichen Schweigen - denn in Bescos gab es keine Kinder - fragte ihn jemand, wie ihm das typische Gericht geschmeckt habe, das er gerade gegessen hatte, und das Gespräch drehte sich wie immer um die Vorteile des Landlebens und die Nachteile der Großstadt.
Je mehr Zeit verstrich, desto nervöser wurde Chantal, weil sie fürchtete, der Fremde könnte sie bitten, von der Begegnung im Wald zu erzählen. Doch der Fremde sah sie nicht einmal an und richtete das Wort nur einmal an sie, als er für alle Anwesenden eine Runde bestellte, die er bar bezahlte.
Als die Gäste gegangen waren und der Fremde in sein Zimmer hinaufgestiegen, nahm Chantal die Schürze ab und zündete sich eine Zigarette aus einer Packung an, die jemand auf dem Tisch vergessen hatte. Nachdem sie sich mit der Hotelbesitzerin darauf verständigt hatte, daß sie am nächsten Morgen aufräumen und saubermachen würde, da sie nach einer fast schlaflosen Nacht todmüde sei, nahm Chantal ihren Mantel und trat in die kühle Nachtluft hinaus.
Bis zu ihrem Zimmer hatte sie nur zwei Minuten zu gehen, und während sie den Regen auf ihr Gesicht fallen ließ, ging ihr durch den Kopf, daß dies alles vielleicht nur eine verrückte Idee war, die makabre Art des Fremden, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Da fiel ihr das Gold wieder ein: Sie hatte es mit eigenen Augen gesehen.
Vielleicht war es ja gar kein Gold. Doch sie war zu müde, um darüber nachzudenken, und zog sich in ihrem Zimmer sofort aus und schlüpfte unter die Bettdecke.
In der zweiten Nacht waren das Gute und das Böse bei Chantal. Sie fiel in einen tiefen, traumlosen Schlaf, wachte aber schon nach einer Stunde wieder auf. Draußen war alles still.
Kein Wind rüttelte an den Metalljalousien, die Tiere der Nacht gaben keinen Mucks von sich - nichts, absolut gar nichts wies darauf hin, daß sie sich noch in der Welt der Lebenden befand.
Sie trat ans Fenster und schaute hinunter auf die verlassene Straße, auf den Nieselregen, auf den vom Licht des Hotelschildes nur schwach beleuchteten Dunst, und der Ort sah noch finsterer aus als sonst. Sie kannte diese Stille von Provinzstädten sehr gut, die mitnichten Frieden und Ruhe bedeutete, sondern nur das Fehlen von Neuem, das gesagt werden könnte.
Sie schaute zu den Bergen hinüber. Sie konnte sie nicht sehen, da die Wolken sehr tief hingen, aber sie wußte, daß irgendwo ein Goldbarren versteckt war. Oder besser gesagt: etwas Gelbes in Form eines Ziegelsteins, das ein Fremder dort hinterlassen hatte. Er hatte ihr den genauen Platz gezeigt, sie fast gebeten, das Metall auszugraben und es zu behalten.
Sie legte sich wieder ins Bett, wälzte sich von einer Seite zur anderen, stand wieder auf und ging ins Badezimmer, wo sie traurig ihren nackten Körper im Spiegel betrachtete, der bald schon nicht mehr so attraktiv sein würde. Zurück im Bett, bereute sie, die Packung Zigaretten, die jemand auf dem Tisch vergessen hatte, nicht mitgenommen zu haben. Aber sie wußte auch, daß sie der Besitzer bestimmt abholen kommen würde, und wollte nicht, daß jemand sie für eine Diebin hielt. Bescos war nun einmal so: Eine halbleere Schachtel, ein von einer Jacke gefallener Knopf, alles mußte aufbewahrt werden, bis jemand kam und danach fragte, und selbst das Wechselgeld mußte auf den Centavo genau herausgegeben werden, man durfte eine Summe nie aufrunden. Ein verfluchter Ort, an dem alles vorhersehbar, durchorganisiert und vertrauenerweckend war.