Als sie merkte, daß der Schlaf nicht kommen würde, betete sie wieder und versuchte an ihre Großmutter zu denken, doch sie sah immer nur die eine Szene: das offene Loch, das mit Erde beschmutzte Metall, den Ast, den sie in ihrer Hand hielt wie den Stab einer Pilgerin, die bereit zum Aufbruch war. Sie döste und wachte immer wieder auf, Doch draußen blieb es still. Daher zog sie sich noch vor Tagesanbruch an und verließ das Haus.
Obwohl sie in einem Dorf lebte, wo alle im Morgengrauen aufstanden, war es für die anderen noch zu früh. Sie ging durch die menschenleere Straße, wobei sie sich immer wieder vergewisserte, daß der Fremde ihr nicht folgte. Der Nebel ließ sie nur wenige Meter weit sehen. Hin und wieder blieb sie stehen, horchte nach Schritten, doch alles, was sie hörte, war ihr wild schlagendes Herz.
Sie betrat den Wald und ging bis zur y-förmigen Felsformation, die so aussah, als könnten die Steine jeden Augenblick herunterstürzen, nahm den Ast, den sie tags zuvor dort hatte liegenlassen, grub an der Stelle, die der Fremde ihr gezeigt hatte, und zog alsbald den ziegelsteinförmigen Barren heraus.
Etwas fiel ihr auf: Auch mitten im Wald herrschte Stille, als hätte eine Geisterhand die Tiere erstarren lassen, selbst an den Bäumen regte sich kein Blatt.
Sie wunderte sich über das Gewicht des Metalls in ihrer Hand.
Sie reinigte es, sah ein paar Markierungen, zwei Stempel und eine Reihe eingravierter Zahlen, die sie zu entziffern versuchte, was ihr nicht gelang.
Wieviel Geld das wohl wert war? Sie wußte es nicht genau, aber wie der Fremde gesagt hatte, war es bestimmt genug, damit man für den Rest seines Lebens ausgesorgt hatte. Sie hielt ihren Traum in Händen, etwas, was sie schon immer gewünscht hatte und was ein Wunder zu ihr gebracht hatte.
Hier war die Chance, sich vom ewigen Einerlei von Bescos zu befreien: von dem Hinundherpendeln zwischen ihrem Zimmer und dem Hotel, in dem sie arbeitete, seit sie volljährig war; von den alljährlichen Besuchen der Freunde und Freundinnen, die weggegangen waren, weil ihre Eltern sie weit weggeschickt hatten, damit sie Karriere machten; von dem Verlassenwerden, an das sie sich gewöhnt hatte; von den Männern, die ankamen und alles versprachen und die tags darauf abreisten, ohne sich zu verabschieden; von allen Abschieden und Nichtabschieden, an die sie sich schon gewöhnt hatte. Dieser Augenblick hier im Wald war der wichtigste in ihrem Leben. Das Leben war immer ungerecht zu ihr gewesen. Ihr Vater war unbekannt, ihre Mutter im Kindbett gestorben und hatte sie als Zeugin ihrer Schmach zurückgelassen. Ihre Großmutter war Bäuerin gewesen, verdiente sich ein Zugeld als Schneiderin und legte jeden Centavo zur Seite, damit ihre Enkelin solange zur Schule gehen konnte, bis sie richtig Lesen und Schreiben gelernt hatte. Chantal hatte immer viele Träume gehabt und glaubte fest daran, daß sie die Herausforderungen meistern, einen Mann finden, eine Anstellung in einer großen Stadt bekommen, von irgendeinem Talentsucher entdeckt werden würde, der vom anderen Ende der Welt ins Dorf kam, um sich auszuruhen; daß sie beim Theater Karriere machen, ein Buch schreiben, das ein großer Bestseller wurde, das Geschrei der Fotografen hören, die baten, für sie zu posieren, über die roten Teppiche des Lebens schreiten würde.
Jeder Tag war ein Tag des Wartens. Jede Nacht war eine Nacht, in der jemand kommen könnte, der ihren wahren Wert erkannte. Jeder Mann in ihrem Bett war die Hoffnung, am nächsten Morgen aufzubrechen und niemals mehr diese drei Straßen zu sehen, die aus Steinen geschichteten Häuser, die Schieferdächer, die Kirche mit dem angrenzenden Friedhof, das Hotel mit seinem Lädchen für Naturprodukte, deren Herstellung Monate dauerte und die dann für denselben Preis verkauft wurden wie Industrieprodukte.
Irgendwann hatte sie sich vorgestellt, die Kelten, die ursprünglichen Bewohner des Ortes, hätten einen riesigen Schatz versteckt und sie hätte ihn schließlich gefunden. Nun gut, von allen ihren Träumen war dies der absurdeste, der unwahrscheinlichste gewesen.
Aber jetzt saß sie da mit dem Goldbarren, dem Schatz, an den sie in Wahrheit nie geglaubt hatte und der ihr endgültig die Freiheit bringen könnte.
Panik ergriff sie bei dem Gedanken, daß das einzige Glück in ihrem Leben noch am selben Abend zerronnen sein könnte.
Und wenn der Fremde es sich nun anders überlegte? Wenn er beschloß, einen anderen Ort zu suchen, wo er eine Frau fand, die eher bereit war, ihn bei seinem Plan zu unterstützen? Warum stand sie nicht einfach auf, kehrte in ihr Zimmer zurück, packte die wenigen Habseligkeiten in den Koffer und ging einfach weg?
Sie stellte sich vor, wie sie den steilen Hang hinunterging, unten an der Straße ein Auto anhielt, während der Fremde zu seiner Morgenwanderung aufbrach und feststellte, daß sein Gold gestohlen worden war. Sie würde zur nächsten Stadt fahren, er ins Hotel zurückkehren und die Polizei rufen.
Chantal würde sich für die Mitfahrgelegenheit bedanken und direkt zum Schalter am Omnibusbahnhof gehen, eine Fahrkarte in einen fernen Ort kaufen. In diesem Augenblick würden zwei Polizisten auf sie zutreten, sie freundlich bitten, den Koffer aufzumachen. Sobald sie den Inhalt sahen, würde die Freundlichkeit wie weggeblasen sein: Sie war die Frau, nach der seit drei Stunden gefahndet wurde.
Auf der Wache hätte Chantal die Wahclass="underline" die Wahrheit zu sagen, die ihr niemand abnehmen würde, oder einfach behaupten, sie habe den aufgewühlten Boden gesehen, nachgegraben und das Gold gefunden. Irgendwann hatte ein Goldgräber, der nach verborgenen Schätzen der Kelten suchte, eine Nacht in ihrem Bett verbracht. Er hatte ihr erzählt, rechtlich sei der Fall ganz klar. Er könne alles behalten, was er fand, müßte nur Funde von historischem Wert bei einer Behörde registrieren lassen.
Doch dieser Goldbarren hatte keinen historischen Wert, er war modern, hatte Marken und Stempel und eingedruckte Nummern.
Der Polizist würde den Fremden verhören. Er könnte nicht beweisen, daß sie in sein Zimmer gekommen war und ihm sein Eigentum gestohlen hatte. Ihr Wort würde gegen seines stehen, aber weil er mächtiger war, Beziehungen zu wichtigen Leuten hatte, würde sie am Ende den kürzeren ziehen. Chantal würde ihrerseits die Polizei bitten, den Goldbarren zu untersuchen, und sie würden aufgrund der Erdkrumen herausfinden, daß sie die Wahrheit sagte.
Mittlerweile würde die Geschichte bereits in Bescos die Runde machen und der eine oder andere Neider schadenfroh anmerken, an dem Gerücht, Chantal schliefe mit den Hotelgästen, sei eben doch etwas dran; vielleicht hätte sie ihn ja nachts im Schlaf bestohlen.
Der Fall würde auf lächerliche Weise zu Ende gehen: Der Goldbarren würde beschlagnahmt werden, bis die Justiz den Fall geklärt hatte, Chantal würde erniedrigt und ruiniert per Anhalter nach Bescos zurückkehren, wo man dann jahrzehntelang über sie herziehen würde, bis man auch das vergaß. Später würde sie herausfinden, daß Gerichtsverfahren niemals zu etwas führten; die Anwälte kosteten Geld, das sie nicht hatte, und sie würde vom Prozeß zurücktreten.
Unter dem Strich hieß das für sie: Ihr guter Ruf und das Gold wären futsch...
Es gab noch eine dritte Variante: nämlich daß der Fremde die Wahrheit sagte. Wenn Chantal das Gold stahl und sofort aufbrach, würde sie den Ort dann nicht vor einem größeren Unglück bewahren?
Sie wußte jedoch bereits, bevor sie das Haus verließ und zum Berg ging, daß sie dazu außerstande war. Warum hatte sie in genau diesem Augenblick, in dem sie ihr Leben vollständig ändern könnte, solche Angst? Schlief sie nicht auch sonst manchmal mit Männern, auf die sie keine Lust hatte, und machte sie nicht hin und wieder Andeutungen, damit die Gäste ihr ein gutes Trinkgeld gaben? Log sie nicht manchmal? War sie etwa nicht neidisch auf ihre alten Freunde, die jetzt nur an Weihnachten nach Bescos kamen, um ihre Verwandten zu besuchen?