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Ihre Hände hielten das Gold umklammert, und als sie sich aufrichtete, taumelte sie. Verzweifelt legte sie es wieder in das Loch zurück und bedeckte es mit Erde. Sie konnte das Gold nicht nehmen: nicht aus Ehrlichkeit, sondern aus Angst. Sie hatte herausgefunden, daß es zwei Dinge gibt, die einen Menschen daran hindern, seine Träume zu verwirklichen: der Glaube, sie seien ohnehin unerfüllbar, oder wenn diese durch eine unerwartete Drehung des Schicksalsrades plötzlich doch erfüllbar werden. In solchen Augenblicken bekommt man Angst vor einem Weg, von dem man nicht weiß, wohin er führt, vor einem Leben voller unbekannter Herausforderungen, davor, daß vertraute Dinge für immer verschwinden könnten.

Der Mensch will immer, daß alles anders wird, und gleichzeitig will er, daß alles beim alten bleibt. Chantal hatte nie recht verstanden, warum das so war, aber genau das geschah jetzt mit ihr. Vielleicht hing sie zu sehr an Bescos, war an ihr Versagen gewohnt und jede Chance auf einen Sieg zu belastend für sie.

Bestimmt hatte der Fremde ihr Schweigen satt und wählte noch heute abend jemand anderen. Aber sie war zu feige, ihr Schicksal zu ändern.

Die Hände, die das Gold berührt hatten, mußten nun wieder Besen, Schwamm und Staubtuch halten. Chantal kehrte dem Schatz den Rücken zu und ging in den Ort zurück, wo die Hotelbesitzerin sie bereits ungeduldig erwartete, da Chantal versprochen hatte, die Bar aufzuräumen, bevor der einzige Gast des Hotels erwachte.

Chantals Befürchtungen bewahrheiteten sich nicht: Der Fremde reiste nicht ab. Sie sah ihn am Abend in der Bar, wo er, verführerischer denn je, Geschichten erzählte, die vielleicht nicht ganz wahr waren, die er aber zumindest in seiner Phantasie intensiv auslebte. Wieder begegneten sich ihre Blicke nur ganz beiläufig, als er die Getränke bezahlte, die er den Stammgästen spendierte.

Chantal war erschöpft. Sie drückte insgeheim die Daumen, daß alle früh gehen würden, aber der Fremde hatte sich in Fahrt geredet und wollte nicht aufhören mit seinen Erzählungen, die die ändern aufmerksam, interessiert und mit jener Unterwürfigkeit anhörten, die die Bauern allen Großstädtern entgegenbringen, weil sie sie für gebildeter, klüger, intelligenter, moderner halten.

>Dummköpfe<, dachte sie bei sich. >Sie begreifen gar nicht, wie wichtig sie sind. Sie wissen nicht, daß, wo immer auf der Welt jemand eine Gabel in den Mund steckt, er dies nur tun kann, weil Menschen wie wir in Bescos von morgens bis abends schuften und unsere Äcker bestellen und uns um unser Vieh kümmern. Wir sind wichtiger für die Welt als die Leute in den großen Städten, und trotzdem fühlen wir uns ihnen gegenüber minderwertig und zu nichts nütze.< Der Fremde hingegen wollte den Dorfbewohnern zeigen, daß seine Bildung mehr wert war als ihre ganze Plackerei. Er wies auf ein Bild an der Wand:

»Wißt ihr, was das ist? Eines der berühmtesten Bilder der Welt: das letzte Abendmahl von Jesus und seinen Jüngern, gemalt von Leonardo da Vinci.«

»So berühmt kann es nun doch wieder nicht sein«, sagte die Hotelbesitzerin. »Es war ganz billig.«

»Das ist nur eine Reproduktion. Das echte Bild befindet sich in einer Kirche sehr weit von hier. Aber es gibt dazu eine Geschichte. Wollt ihr sie hören?«

Alle nickten, und wieder einmal schämte sich Chantal, daß sie einem Mann zuhören mußte, der mit seinem unnützen Wissen angab.

»Als er dieses Bild malte, sah sich Leonardo da Vinci vor eine große Schwierigkeit gestellt. Er mußte das Gute in der Gestalt Jesu und das Böse in der Gestalt des Judas darstellen, Christi Freund, der während des letzten Abendmahls beschließt, ihn zu verraten. Er unterbrach seine halbfertige Arbeit und machte sich auf die Suche nach möglichen Modellen für diese zwei Figuren.

Eines Tages sah er bei einem Chorkonzert einen jungen Choristen, der für ihn das vollkommene Bildnis Christi verkörperte. Er lud ihn in sein Atelier und machte Studien und Skizzen von ihm.

Drei Jahre vergingen. Das >Abendmahl< war fast fertig, doch das ideale Modell für den Judas hatte Leonardo noch immer nicht gefunden. Der Kardinal, der für die Kirche zuständig war, drängte den Maler, das Wandbild schnellstmöglich zu vollenden. Nachdem er erneut viele Tage gesucht hatte, traf der Maler auf einen verlebten und zerlumpten Mann, der betrunken im Rinnstein lag. Er bat seine Gehilfen, ihn direkt in die Kirche zu bringen, da er keine Zeit mehr hatte, um Skizzen anzufertigen.

Der Bettler begriff nicht, wie ihm geschah. Die Gehilfen hielten ihn aufrecht, während Leonardo die Züge der Gottlosigkeit, der Sünde, des Egoismus malte, die sich in dem Gesicht so deutlich abzeichneten.

Als er fertig war, öffnete der Bettler, der inzwischen wieder nüchtern war, die Augen und sah das Bild vor sich. Und sagte mit einer Mischung aus Erstaunen und Traurigkeit:

>Dieses Bild habe ich schon einmal gesehen!<

>Wann?< fragte Leonardo überrascht.

>Vor drei Jahren, bevor ich alles verlor, was ich besaß. Damals sang ich in einem Chor, hatte viele Träume, und Sie luden mich ein, um für das Gesicht Jesu Modell zu stehen.<«

Der Fremde machte eine lange Pause. Er starrte den Priester an, der sein Bier trank, aber Chantal wußte, daß die Worte, die er sagte, an sie gerichtet waren.

»Oder anders gesagt, das Gute und das Böse haben dasselbe Gesicht, es hängt alles nur davon ab, wann sie den Weg eines jeden Menschen kreuzen.«

Er erhob sich, entschuldigte sich damit, daß er müde sei, und ging auf sein Zimmer. Alle zahlten und blieben beim Hinausgehen kurz vor der billigen Reproduktion des berühmten Bildes stehen, wobei sie sich fragten, in welcher Phase ihres Lebens sie wohl von einem Engel oder von einem Dämon berührt worden waren. Stillschweigend kamen alle zu dem Schluß, daß dies in Bescos weit zurückliegen mußte, bevor Ahab die Gegend befriedet hatte. Jetzt war ein Tag wie der andere, und heute unterschied sich in nichts von morgen.

Chantal konnte sich vor Erschöpfung kaum noch auf den Beinen halten und räumte und spülte fast mechanisch.

Dennoch wußte sie, daß sie als einzige anders dachte, weil die verführerische Pranke des Bösen ihr Gesicht liebkost hatte. >Das Gute und das Böse haben dasselbe Gesicht, es hängt alles nur davon ab, wann sie den Weg eines jeden Menschen kreuzen.< Schöne Worte, vielleicht sogar wahre Worte, aber im Moment konnte sie nur an Schlaf denken und an sonst gar nichts.

Am Ende war sie so müde, daß sie einem Kunden aus Versehen zuwenig Wechselgeld herausgab, was ihr sonst nie passierte. Sie entschuldigte sich automatisch, ohne sich wirklich schuldig zu fühlen. Tapfer hielt sie durch, bis auch die allerletzten - der Priester und der Bürgermeister -, endlich das Lokal verließen. Dann schloß sie die Kasse ab, nahm ihre Sachen, zog die billige Wolljacke über und ging den gewohnten Weg nach Hause.

In der dritten Nacht war das Böse bei ihr. Und das Böse kam in Form einer ungeheuren Müdigkeit und eines hohen Fiebers, die sie wie betäubt daliegen, aber nicht einschlafen ließen, während draußen ein Wolf ums Haus heulte. Manchmal hatte sie das Gefühl, daß sie delirierte, weil es ihr so vorkam, als sei das Tier in ihr Zimmer gekommen und spreche in einer für sie unverständlichen Sprache mit ihr. In einem lichten und wachen Moment versuchte sie aufzustehen und zur Kirche zu gehen, um den Priester zu bitten, einen Arzt zu rufen, denn sie war krank, schwer krank. Doch sowie sie ihre Absicht in die Tat umsetzen wollte, gaben die Beine unter ihr nach, und sie konnte keinen Schritt vor den anderen tun.

Die Kirche hätte sie jedenfalls nie erreicht. Und selbst wenn, hätte sie fieberheiß und gleichzeitig schlotternd vor Kälte draußen warten müssen, bis der Priester aufwachte, sich anzog und das Tor öffnete, so daß sie womöglich an dem heiligen Ort elendiglich umgekommen wäre.