>So brauchten sie mich wenigstens nicht zum Friedhof zu tragen, denn da wäre ich ja praktisch schon.< Chantal verbrachte die ganze Nacht im Delirium, und das Fieber ließ erst nach, als das Morgenlicht in ihr Zimmer schien.
Gerade als sie sich wieder etwas kräftiger fühlte und endlich einschlafen konnte, ertönte die vertraute Hupe des Bäckerwagens, der in Bescos angekommen war: Zeit fürs Frühstück.
Keiner zwang sie, hinunterzugehen und Brot zu kaufen. Heute mußte sie erst am Abend wieder zur Arbeit und konnte so lange im Bett bleiben, wie sie wollte. Doch etwas hatte sich verändert.
Sie brauchte den Kontakt zu den anderen, um nicht ganz verrückt zu werden. Sie wollte die ändern treffen, die sich jetzt um den kleinen grünen Lieferwagen drängten und fröhlich ihr Kleingeld hinstreckten, weil ein neuer Tag begann und sie etwas zu tun und zu essen bekamen.
Sie ging hinunter, begrüßte alle und mußte sich Bemerkungen anhören wie >Du siehst aber müde aus< oder >Ist etwas passiert?< Sie meinten es gut mit ihr und boten ihr großzügig ihre Hilfe an. Derweil lag ihre Seele in einem pausenlosen Kampf um Träume, Abenteuer, Angst und Macht. Wie gern hätte sie ihr Geheimnis mit den anderen geteilt, doch wenn sie es auch nur einer einzigen Person sagte, wußte es der Rest des Ortes, noch ehe der Vormittag um war. Da nahm sie die freundliche Anteilnahme lieber dankend an und wartete, bis sie ihre Gedanken etwas geordnet hatte.
»Es ist nichts weiter. Ein Wolf hat die ganze Nacht geheult und mich nicht schlafen lassen.«
»Ich habe keinen Wolf heulen hören«, sagte die Hotelbesitzerin, die auch gerade ihr Brot kaufte.
»Seit Monaten war kein Wolf mehr in der Gegend«, stimmte ihr die Frau aus dem kleinen Laden neben der Bar zu. »Die Jäger haben sie fast ausgerottet. Um so schlimmer für uns, denn seither finden die Jäger die Wolfsjagd erst recht spannend. Sie lieben diesen nutzlosen Wettstreit: Wer schafft es, das schwierigste Tier zu töten?«
»Sagen Sie bloß nicht laut, daß keine Wölfe mehr in der Gegend sind, solange der Bäcker da ist«, gab Chantals Chefin leise zurück. »Wenn das bekannt wird, kommt womöglich gar niemand mehr nach Bescos.«
»Aber ich habe einen Wolf gehört.« »Das wird der verfluchte Wolf gewesen sein«, meinte die Bürgermeistersfrau. Chantal mochte sie nicht besonders, war aber so wohlerzogen, ihre Gefühle nicht zu zeigen.
»Es gibt keinen verfluchten Wolf, und damit basta«, zischte die Hotelbesitzerin. »Das war irgendein Wolf, und wahrscheinlich ist er inzwischen tot.«
Die Bürgermeistersfrau gab sich noch nicht geschlagen.
»Ob es ihn nun gibt oder nicht, wir alle wissen, daß heute nacht kein Wolf geheult hat. Sie lassen das Mädchen bis in die Puppen arbeiten, sie ist einfach erschöpft und bekommt vor lauter Müdigkeit bereits Halluzinationen.«
Chantal überließ die beiden ihrem Streit, nahm ihr Brot und entfernte sich.
>Nutzloser Wettstreits dachte sie und erinnerte sich an die Bemerkung der Lebensmittelhändlerin. So betrachteten sie das Leben: als unnötigen Wettstreit. Sie hätte beinahe an Ort und Stelle den Vorschlag des Fremden preisgegeben, nur um zu sehen, wie diese bequemen und im Geiste armen Menschen einen wirklich nützlichen Wettstreit begannen. Für ein einfaches Verbrechen zehn Goldbarren, die die Zukunft ihrer Kinder und Kindeskinder und Bescos' neuerlichen Ruhm - mit oder ohne Wolf - sicherten.
Aber sie hielt sich im Zaum. Gleichzeitig beschloß sie, die Geschichte noch am selben Abend in der Bar zu erzählen, vor allen, so daß keiner sagen konnte, er habe sie nicht gehört oder nicht verstanden. Womöglich würden sie sich dann auf den Fremden stürzen und ihn direkt zur Polizei bringen und ihr so die Freiheit geben, ihren Goldbarren als Belohnung für die der Gemeinschaft geleistete Arbeit zu nehmen. Vielleicht würden sie es aber einfach nicht glauben, und der Fremde würde in der Überzeugung fortgehen, alle seien gut - was nicht der Wahrheit entsprach.
>Alle sind so ignorant, naiv, angepaßt. Alle glauben nicht an Dinge, die sie zu glauben nicht gewohnt sind. Alle haben Angst vor Gott. Wir alle - auch ich - sind in dem Augenblick feige, in dem wir unser Leben ändern könnten. Wahre Güte jedoch gibt es nicht. Weder auf Erden bei den feigen Menschen noch im Himmel des Allmächtigen Gottes, der Leid aussät, wie es gerade kommt, nur damit wir ihn ein Leben lang bitten, uns von dem Bösen zu erlösen.<
Es war kälter geworden, und Chantal hatte drei Nächte nicht geschlafen; doch als sie ihr Frühstück bereitete, fühlte sie sich besser denn je. Sie war nicht der einzige feige Mensch.
Vielleicht war sie sich als einzige ihrer Feigheit bewußt, weil die anderen das Leben einen »unnötigen Wettkampf« nannten und ihre Angst mit Großzügigkeit verwechselten.
Unwillkürlich mußte sie an einen Mann denken, der in der Apotheke im Nachbarort gearbeitet und nach zwanzig Jahren seine Stelle dort verloren hatte: Er hatte nicht einmal eine Abfindung verlangt, angeblich, weil er mit den Besitzern befreundet war und sie nicht verletzen wollte, weil die Kündigung aufgrund einer finanziellen Notlage erfolgt war. Alles Lüge: Der Mann war nicht vor Gericht gegangen, weil er zu feige war und um jeden Preis geliebt werden wollte; seine Arbeitgeber sollten ihn unbedingt als einen großzügigen und verständnisvollen Menschen in Erinnerung behalten. Als er später zu ihnen ging, um sich Geld von ihnen zu leihen, schlugen sie ihm die Tür vor der Nase zu, aber da war es bereits zu spät. Er hatte einen Brief unterzeichnet, in dem er selber kündigte, und konnte daher nichts mehr verlangen.
Selber schuld. Die barmherzige Seele spielen war nur etwas für die, die Angst hatten, im Leben Stellung zu beziehen. Es ist immer einfacher, an die eigene Güte zu glauben, als den anderen die Stirn zu bieten und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Er ist immer einfacher, eine Beleidigung stillschweigend hinzunehmen, als den Mut aufzubringen, gegen jemand Stärkeren zu kämpfen. Wir können noch so sehr so tun, als ob der Stein, der auf uns geworfen wurde, uns nicht getroffen hätte - nachts im stillen Kämmerlein, wenn unsere Bettgefährten schlafen, weinen wir dann über unsere Feigheit.
Chantal trank ihren Kaffee und wünschte sich, daß der Tag schnell vergehen möge. Am Abend würde sie das Dorf zerstören und mit Bescos abrechnen. Der Ort würde sowieso bald aussterben, denn ein Ort ohne Kinder konnte nicht überleben. Die jungen Leute bekamen ihre Kinder in anderen Städten des Landes, wo es Feste, schöne Kleider, Reisen, jenen »unnötigen Wettstreit« gab.
Der Tag verging jedoch alles andere als schnell. Das graue Wetter mit den niedrig hängenden Wolken ließ die Stunden sich endlos hinziehen. Die Berge blieben hinter den Wolken verborgen, und das Dorf wirkte verloren und wie von der Welt abgeschieden, als wäre es der einzige besiedelte Flecken auf Erden. Vom Fenster aus sah Chantal den Fremden das Hotel verlassen und wie jeden Morgen in die Berge gehen. Sie fürchtete um ihr Gold. Doch dann beruhigte sich ihr Herz. Er würde zurückkommen, er hatte eine Woche vorausbezahlt, und reiche Menschen halten ihr Geld zusammen. Nur arme Leute geben's mit vollen Händen aus.
Sie versuchte zu lesen, konnte sich jedoch nicht konzentrieren.
Sie beschloß, einen Spaziergang durch Bescos zu machen, und der einzige Mensch, den sie sah, war Berthe, die Witwe, die tagaus, tagein vor ihrem Haus saß und aufpaßte, was geschah.
»Sieht so aus, als würd's noch kühler werden«, sagte Berthe.
Chantal fragte sich, ob die Leute deshalb immer nur übers Wetter redeten, weil sie sonst nichts zu sagen fanden. Sie nickte zustimmend.
Sie setzte ihren Weg fort, weil sie mit Berthe alles besprochen hatte, was es in den vielen Jahren, die sie bereits in Bescos lebte, zu besprechen gab. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte sie Berthe für eine interessante, mutige Frau gehalten; nach dem Tod ihres Mannes bei einem Jagdunfall hatte diese sich tapfer berappelt und ihr Leben sogar so weit in den Griff bekommen, daß sie einen Teil ihrer wenigen Habseligkeiten verkauft und den Erlös zusammen mit dem Geld von der Versicherung angelegt hatte und nun von den Zinsen leben konnte.