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Mittlerweile interessierte sie die Witwe jedoch nicht mehr, ja, sie wurde für sie zum Inbegriff all dessen, was sie selbst unbedingt vermeiden wollte: Nie und nimmer wollte Chantal ihren Lebensabend wie Berthe auf einem Stuhl vor ihrem Hause sitzend verbringen, im Winter in dicke Jacken gemummelt die einzige Landschaft betrachten, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte, bewachen, was nicht bewacht zu werden brauchte, weil es hier nichts wirklich Kostbares und Stehlenswertes gab.

Furchtlos betrat sie den nebelverhangenen Wald, in dem sie jeden Pfad, Baum und Stein kannte. Sie stellte sich vor, wie aufregend es heute abend würde, und probierte aus, wie sie vom Vorschlag des Fremden erzählen wollte: mal indem sie haarklein berichtete, was sie gehört und gesehen hatte, mal indem sie das Ganze in eine Geschichte kleidete, die ebensogut erfunden oder wahr sein konnte - genau wie der Fremde auch, der sie seit drei Nächten nicht schlafen ließ.

>Ein gefährlicher Mann, schlimmer als alle Jäger, die mir je begegnet sind.<

Während Chantal durch den Wald wanderte, wurde ihr allmählich klar, daß sie jemand noch Gefährlicheren als den Fremden entdeckt hatte: sich selber. Noch vor vier Tagen war ihr nicht bewußt gewesen, wie sehr sie alles als gegeben hinnahm: Wer sie war, was sie vom Leben erwarten konnte, was das Leben in Bescos trotz allem lebenswert machte. Nicht umsonst wurde die Gegend jeden Sommer von Touristen überschwemmt, die den Ort >ein Paradies< nannten.

Jetzt krochen die Monster aus ihren Gräbern, verdüsterten ihre Nächte, machten, daß sie sich unglücklich, ungerecht behandelt, von Gott und ihrem Schicksal verlassen fühlte.

Schlimmer noch: Sie zwangen sie, die Bitterkeit zu sehen, die sie Tag und Nacht, im Wald und bei der Arbeit, bei den seltenen Begegnungen und allein im stillen Kämmerlein in sich hineingefressen hatte.

»Möge dieser Mann verdammt sein. Und möge ich verdammt sein, weil ich ihn gezwungen habe, meinen Weg zu kreuzen.«

Während sie zum Dorf zurückging, bereute sie jeden Augenblick ihres Lebens und verfluchte ihre Mutter, weil sie so früh gestorben war, ihre Großmutter, weil sie ihr Güte und Ehrlichkeit beigebracht hatte, ihre Freunde, weil sie fortgezogen waren, ihr Schicksal, weil es sich gegen sie verschworen hatte.

Berthe saß noch immer da.

»Du hast es immer so eilig«, sagte sie. »Setz dich doch ein Weilchen zu mir und ruh dich aus.«

Chantal nahm ihr Angebot an. Sie würde alles tun, was dazu beitrug, daß die Zeit schneller verging.

»Das Dorf ist irgendwie anders«, sagte Berthe. »Es liegt etwas Neues in der Luft. Gestern habe ich einen Wolf heulen hören.«

Die junge Frau war erleichtert. Verflucht oder nicht, der Wolf hatte in dieser Nacht geheult, und zumindest ein Mensch außer ihr hatte ihn gehört.

»Dieser Ort ändert sich nie«, antwortete sie. »Nur die Jahreszeiten kommen und gehen, und jetzt ist bald der Winter wieder dran.«

»Nein. Es hängt mit der Ankunft des Fremden zusammen.«

Chantal hielt den Atem an. Sollte er mit noch jemandem gesprochen haben?

»Was hat die Ankunft des Fremden mit Bescos zu tun?«

»Ich verbringe meine Tage damit, die Natur anzuschauen. Es gibt Leute, die meinen, das wäre verlorene Zeit. Aber nur so habe ich gelernt, den Verlust des Menschen zu verschmerzen, den ich liebte. Die Jahreszeiten kommen und gehen, die Bäume verlieren ihr Laub und bekommen es wenig später wieder. Dennoch schafft hin und wieder etwas Unerwartetes endgültige Veränderungen. Jemand hat mir erzählt, daß die Berge ringsum das Ergebnis eines vor Jahrtausenden erfolgten Erdbebens sind.«

Die junge Frau nickte. Das hatte auch sie in der Schule gelernt.

»Danach war nichts mehr wie vorher. Ich habe Angst, daß das wieder passieren könnte.«

Chantal war drauf und dran, die Geschichte mit den Goldbarren zu erzählen, denn sie hatte das Gefühl, daß die Alte etwas darüber wußte. Doch sie schwieg weiterhin. »Ich muß immer an Ahab denken, unseren großen Reformator, unseren Helden, den Mann, der vom heiligen Savinus gesegnet wurde.«

»Warum an Ahab?«

»Weil er wußte, daß ein winziges Detail, mochte es noch so gut gemeint sein, alles zerstören kann. Es wird erzählt, daß Ahab, nachdem er die Stadt befriedet, die zwielichtigen Gestalten vertrieben und Ackerbau und Handel in Bescos modernisiert hatte, an einem Abend seine Freunde zu einem Abendessen versammelte und ein saftiges Stück Fleisch für sie braten wollte. Plötzlich merkte er, daß das Salz ausgegangen war.

Da rief Ahab seinen Sohn: >Geh ins Dorf und kaufe Salz. Aber bezahle den rechten Preis: Nicht zu viel und nicht zu wenig.< Der Sohn wunderte sich:

>Ich verstehe, daß ich nicht zuviel zahlen soll, Vater. Aber wenn ich feilschen könnte, warum sollte ich nicht etwas Geld sparen?<

>Das empfiehlt sich in einer großen Stadt. Aber in einem Dorf wie dem unsrigen wäre es verheerende Der Sohn fragte nicht weiter und ging. Die Gäste hingegen, die das Gespräch mitbekommen hatten, wollten wissen, warum er das Salz nicht billiger einkaufen sollte, und Ahab sagte darauf:

>Wer das Salz zu billig verkauft, braucht dringend Geld. Wer diese Situation ausnutzt, mißachtet den Mann, der das Salz im Schweiße seines Angesichts gewonnen hat.<

>Aber wie kann eine Prise Salz ein ganzes Dorf zerstören?<

>Die Ungerechtigkeit war zu Anfang der Welt auch klein. Aber jeder von uns hat ihr eine weitere vermeintliche Kleinigkeit hinzugefügt, und seht, wo wir heute stehen.<«

»Wie der Fremde«, sagte Chantal in der Hoffnung, Berthe werde bestätigen, daß auch sie mit ihm geredet hatte. Doch Berthe schwieg.

»Ich weiß nicht, warum Ahab soviel daran lag, Bescos zu retten«, ließ sie nicht locker. »Zuerst war es eine Räuberhöhle, und jetzt ist es ein Dorf voller Feiglinge.« Die Alte wußte ganz bestimmt etwas. Sie mußte nur herausbekommen, ob der Fremde ihr etwas erzählt hatte.

»Das stimmt. Aber ich weiß nicht, ob das wirklich Feigheit ist.

Ich glaube, daß alle sich vor Veränderungen fürchten. Sie wollen, daß Bescos so bleibt, wie es immer war: ein Ort, an dem man seinen Acker bestellen und sein Vieh hüten kann, ein Ort, der Jäger und Touristen beherbergt, in dem aber jeder genau weiß, was der morgige Tag bringt, und das einzig Unvorhersehbare die Geißeln der Natur sind. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, Frieden zu finden, obwohl ich mit dir in einem Punkt einer Meinung bin: Alle glauben, daß sie alles unter Kontrolle haben, während sie in Wirklichkeit gar nichts kontrollieren.«

»Sie kontrollieren überhaupt nichts«, pflichtete Chantal ihr bei.

»Keiner kann dem, was geschrieben steht, ein Jota hinzufügen«, sagte die Alte, indem sie einen Text des katholischen Evangeliums zitierte. »Aber wir leben gern mit dieser Illusion, weil sie uns Sicherheit gibt.«

»Tja, wir müssen wählen, selbst wenn es dumm ist zu versuchen, die Welt in den Griff zu bekommen, sich in einer falschen Sicherheit zu wiegen, so daß man am Ende dem Leben völlig unvorbereitet gegenübersteht. Wenn man es am wenigsten erwartet, schüttet ein Erdbeben Berge auf, fällt der Blitz einen knospenden Baum, beendet ein Jagdunfall das Leben eines ehrlichen Mannes.«

Berthe erzählte zum hundertsten Mal, wie ihr Mann gestorben war. Er war einer der am meisten geachteten Führer der Region gewesen, für den die Jagd kein barbarischer Sport war, sondern eine Tradition, die es zu bewahren galt. Ihm war es zu verdanken, daß in Bescos ein Naturschutzgebiet eingerichtet und ein Artenschutzgesetz verabschiedet wurden, wonach für jedes erlegte Wild eine Art Gemeindesteuer erhoben wurde, die dann auch den Gemeindemitgliedern zugute kam.