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Neue Romane vom

Hexer von Salem

DER DAGON-ZYKLUS

Band 1

BECHTERMÜNZ VERLAG

Genehmigte Lizenzausgabe für

Bechtermünz Verlag im

Weltbild Verlag GmbH, Augsburg 1996

Copyright © 1991 by Bastei Verlag,

Gustav H. Lübbe GmbH & Co., Bergisch-Gladbach

Umschlagbild: Agentur Holl, Aachen

Einbandgestaltung: Adolf Bachmann, Reischach

Gesamtherstellung: Ebner Ulm

Printed in Germany

ISBN 3-86047-343-3

In maschinenlesbares Format

übertragen von peterpan

Korrektur und Satz von Tinkerbelle

Version 1.0

Wäre dies eine Gespenstergeschichte gewesen, dachte Howard, so hätte er sich kaum eine bessere Szenerie für ihren Anfang wünschen können. Spielten nicht die meisten davon nachts, bei unheimlich heulendem Wind, huschenden Lichtreflexen, Schatten, die irgendwie voller huschender, wispernder Dinge schienen; und nach Möglichkeit noch bei ein bißchen Nebel?

Nun - es war dunkle Nacht, der Wind heulte unheimlich um die Dächer der Häuser, die hinter einer dichten Nebelwand nur noch zu ahnen waren, und die Schatten waren voller huschender, wispernder Dinge. Die Hufe der Pferde und die Räder der Kutsche riefen lang widerhallende, gebrochene Echos hervor, und die Feuchtigkeit legte sich wie ein schmieriger, eiskalter Film nicht nur über die Scheiben der Kutsche, sondern auch auf die Körper der Pferde, das Gesicht des Kutschers und seine Hände, die von Kälte bereits steif und rot geworden waren und die Zügel kaum noch zu halten vermochten.

Perfekt, dachte Howard spöttisch. Und die Szene wäre vermutlich noch perfekter gewesen, hätte sie nicht einen kleinen, aber entscheidenden Schönheitsfehler gehabt: Es war nicht der Anfang einer erdachten Geistergeschichte, deren einziger wirklicher Schrecken möglicherweise in der Art lag, in der sie erzählt wurde. Es war die Realität. Was bei näherer Betrachtung um keinen Deut besser war.

Er riß sich vom Bild des Londoner Hafenviertels los, das vor den beschlagenen Scheiben der Kutsche vorbeizog (sehr viel hatte er ohnehin nicht sehen können, denn der Nebel wurde immer dichter, je mehr sie sich dem Wasser näherten), und tauschte einen langen, schweigenden Blick mit dem rothaarigen Hünen, der ihm gegenüber saß und mit seinen breiten Schultern und den dazu passenden Hüften gleich zwei Plätze der zweiten Sitzbank ausfüllte. Sie waren die einzigen Passagiere, und das würden sie auch bleiben. Ein großzügiges Trinkgeld - und die Aussicht auf einen ebenso großzügigen Nachschlag desselben - hatte dafür gesorgt, daß der Kutscher weder anhalten noch irgendwelche überflüssigen Fragen nach dem Wohin oder Weshalb dieser mitternächtlichen Fahrt stellen würde.

Allerdings war ein neugieriger Kutscher im Moment Howards geringste Sorge.

Eine ganze Weile sah er Rowlf nur durchdringend an, dann griff er in die Tasche seiner Seidenweste, zog Streichhölzer, eine schwarze Brasilzigarre und in der gleichen Bewegung auch noch ein Blatt Papier hervor, dem man ansah, daß es schon oft aus einander- und wieder zusammengefaltet worden war. Howard schätzte, daß er den Brief an die fünfzigmal gelesen hatte, obwohl er ihn erst seit wenigen Stunden besaß. Nicht, daß das irgend etwas an der Mischung aus Erstaunen und ungläubigem Schrecken änderte, mit dem ihn sein Inhalt erfüllte. Das hätte sich vermutlich auch nicht geändert, wenn er ihn fünfhundertmal gelesen hätte.

Wieso jetzt, nach all dieser Zeit? Und wieso ausgerechnet hier? Das Risiko für den Verfasser der Zeilen, hierher zu kommen, war ungeheuerlich.

Howard verscheuchte auch diesen Gedanken, faltete das Blatt auseinander und las den Text, der in einer schmalen, gestochen scharfen Handschrift darauf stand, zum einundfünfzigsten Mal, obwohl er ihn längst auswendig kannte:

Lieber Freund!

Du wirst sicher erstaunt sein, nach so langer Zeit und so plötzlich wieder von mir zu hören. Leider stehen mir im Moment weder die nötige Zeit noch Muße zur Verfügung, Dir die notwendigen Erklärungen zu geben. Eingedenk unserer alten Freundschaft aber möchte ich Dich bitten, Dich umgehend mit mir zu treffen. Es geht um das Schicksal eines gemeinsamen Freundes, der uns beiden am Herzen liegt.

Wäre Dir der heutige Abend recht? Wenn ja, schlage ich Mitternacht vor, Nummer drei an der üblichen Stelle der Straße. Alle Vorbereitungen sind getroffen.

London, im Jahre den Herrn 1885, den 12. September, N.

Howard hatte den Brief wieder und wieder gelesen. Für jeden anderen wären die wenigen Zeilen völlig bedeutungslos gewesen, allenfalls, daß er sich über den etwas holprigen Stil des Schreibers amüsiert hätte. Aber die ungewöhnliche Ausdrucksweise des Briefeschreibers war kein Zufall. Vielmehr war der Text in einem ganz bestimmten Code abgefaßt, den nur zwei Menschen kannten; nämlich Howard selbst und der Absender dieses Briefes. Der scheinbar unverfängliche Text enthielt außer der Einladung zu einem Treffen auch noch eine Warnung; und einen Hinweis, der die besagte Einladung so dringlich machte, daß sie praktisch zu einem Befehl wurde, so drängend, daß Howard es nicht einmal riskieren konnte, eine Nachricht für Robert zu hinterlassen. Denn die Identität des geheimnisvollen ›N‹ gehörte vermutlich zu den zehn bestgehütetsten Geheimnis sen der Welt.

Howard seufzte tief, riß das Streichholz an und hielt das brennende Ende unter den Brief. Er wartete geduldig, bis die Flamme das Blatt fast zur Gänze ergriffen hatte, dann entzündete er sich umständlich seine Zigarre damit, ließ das Blatt im allerletzten Moment fallen und zertrat das geschwärzte Papier sorgsam mit dem Absatz, bis nur noch schwarze Flocken den Boden der Kutsche bedeckten.

»Isses noch weit?« nuschelte der stoppelhaarige Hüne auf der gegenüberliegenden Bank.

Howard lächelte beiläufig, blickte in den Nebel hinaus und zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren.

Lächerlich, dachte er - es ging hier vielleicht um die Zukunft der gesamten Menschheit, zumindest aber um das Leben eines Freundes -, und sie waren auf Gedeih und Verderb der Ortskenntnis eines Mietkutschers ausgeliefert. Flüchtig fragte er sich, wie viele weltbewegende Entscheidungen wohl schon von solchen Trivialitäten bestimmt worden waren.

Als hätte der Kutscher oben auf dem Bock Rowlfs Frage gehört, änderte sich etwas im gleichmäßigen Klackedi-Klack der Pferdehufe. Der Wagen wurde langsamer und hielt schließ lich an. Howard wollte die Tür öffnen, aber Rowlf kam ihm zuvor; mit einer Behendigkeit, die selbst Howard immer wieder überraschte, bei einem Mann seiner Größe und Massigkeit, stand er von seinem Platz auf, öffnete die Tür und sprang aus der Kutsche. Rowlf und er waren längst zu Freunden geworden, wie man sie sich besser kaum vorstellen konnte; aber der rothaarige Riese nahm seine Aufgabe als Diener und vor allem Leibwächter seines Herrn noch immer sehr ernst. Manchmal ernster, als Howard lieb war.

»Is gut«, sagte er, nachdem er sich kurz, aber sehr aufmerksam draußen umgeblickt hatte. »Du kannst rauskommen, H.P. Is keener nich da.«

Während Howard aus dem Wagen stieg, wurde er sich unangenehm der Tatsache bewußt, daß der Kutscher sein und Rowlfs sonderbares Benehmen zwar wortlos, aber sehr aufmerksam und mit vielsagendem Gesichtsausdruck beobachtete. Er fügte der Summe, die sie abgesprochen hatten, noch einen ansehnlichen Betrag hinzu - aber nicht so viel, daß der Mann nun etwa durch die Höhe des Trinkgeldes mißtrauisch wurde -, wartete, bis der Wagen gewendet hatte und im Nebel verschwunden war, und drehte sich dann schaudernd herum.